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Egon Krenz und Wolfgang Böhmer debattieren über den Mauerfall Egon Krenz und Wolfgang Böhmer debattieren über den Mauerfall: "Ich stimme Ihnen zu aber ..."

Von Hans-Ulrich Köhler und Kai Gauselmann 07.11.2014, 15:44
Mehr als dreistündiges Gespräch in der Berliner Landesvertretung Sachsen-Anhalts (im Uhrzeigersinn von links): MZ-Chefredakteur Hartmut Augustin, Egon Krenz, die Redakteure Kai Gauselmann und Hans-Ulrich Köhler sowie Wolfgang Böhmer.
Mehr als dreistündiges Gespräch in der Berliner Landesvertretung Sachsen-Anhalts (im Uhrzeigersinn von links): MZ-Chefredakteur Hartmut Augustin, Egon Krenz, die Redakteure Kai Gauselmann und Hans-Ulrich Köhler sowie Wolfgang Böhmer. Andreas Stedtler Lizenz

Berlin - Mehr als drei Stunden dauerte die Debatte der Ex-Regierungschefs - hier sind die Höhepunkte zu lesen. Das Gespräch führten Hartmut Augustin, Hans-Ulrich Köhler und Kai Gauselmann.

Herr Krenz, Sie waren im Wendeherbst der mächtigste Mann der DDR-Führung. Sie haben aber teilweise wie ein Getriebener gewirkt. Haben Sie sich manchmal machtlos gefühlt?

Krenz: Ich war auch ein Getriebener, ich wusste manchmal morgens nicht, wie der Abend sein wird. Das war eine sehr komplizierte Zeit, und wer da in der warmen Stube gesessen hat, der wird das gar nicht nachempfinden können.

Wie hat es sich denn angefühlt?

Krenz: Ich habe die Funktion übernommen, als die DDR in der schwersten Krise ihrer 40-jährigen Geschichte steckte. Bis dahin hatte ich viele Jahre kameradschaftlich mit Erich Honecker zusammengearbeitet. Menschlich und moralisch war es für mich sehr schwer, seine Absetzung zu fordern. Ich tat es, weil mir die Existenz der DDR wichtiger war als das politische Schicksal von Honecker. Dass auch ich die DDR nicht mehr am Leben halten konnte, zähle ich zu meiner Lebensniederlage.

Herr Böhmer, als die Montags-Demos aufkamen - waren Sie dabei?

Böhmer: Ich hatte gar keine Zeit, immer zu Demonstrationen zu gehen. Aber ich kann mich an einige Veranstaltungen erinnern, wo ich wissen wollte, was da läuft. Da stand ich rechts und links umgeben von Leuten mit SED-Abzeichen. Auch die waren der Meinung, dass sich bei uns etwas ändern muss. Herr Krenz, wenn Sie sagen, Sie wollten, dass die DDR in Ordnung kommt: Was meinen Sie damit? Ich denke nicht, dass Ihnen das im Sommer 1989 noch geglaubt worden wäre. Wir hatten eine Stimmung im Land, die war nicht nur von Kritik getragen, sondern von Ablehnung des Regimes geprägt. Niemand hatte mehr Vertrauen in die Regierung und schon gar nicht in die alles dominierende Partei. Die Situation in den Vertretungen der BRD in unseren sozialistischen Nachbarstaaten war doch ein Armutszeugnis für die DDR.

Krenz: Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie daran erinnern, dass auch viele SED-Mitglieder bei den Protesten dabei waren. Das wird inzwischen leider von vielen vergessen. Die DDR-Bürger sind zunächst mit der Losung „Wir bleiben hier“ auf die Straße gegangen. Erst als die Parteiführung, der ich angehörte und die Erich Honecker geleitet hat, darauf nicht reagierte, kam die Losung auf: „Wir sind das Volk!“ Sie war darauf gerichtet, die Verfassungsgrundsätze der DDR zu verwirklichen. Die DDR abzuschaffen, hat damals noch keine Rolle gespielt. In der Erklärung, die ich dem Politbüro am 10. Oktober 1989 vorgelegt hatte, wurde der unselige Satz kritisiert, dass man den aus der DDR Weggegangenen keine Träne nachweinen sollte. Es ging um den Grundsatz, politische Probleme ohne Gewalt zu lösen. Die Erklärung forderte einen gesellschaftlichen Dialog über mehr Offenheit, lebensverbundene Medien, Reisemöglichkeiten, bessere Versorgung der Bevölkerung und natürlich auch darum, die bauliche Vernachlässigung der Stadtzentren zu beenden.

Böhmer: Aber die Menschen haben doch nicht wegen der Bauschäden demonstriert.

Krenz: Das ist richtig. Viele wollten eine deutsche Perestroika nach Gorbatschows Beispiel. Dies sollte sich bald als Illusion erweisen. Damals allerdings war das auch mein Ziel.

Böhmer: Da bin ich gespannt, wie Sie sich das vorgestellt hatten.

Krenz: Meine Initiative für Veränderungen kam viel zu spät. Anfang November 1989 wurde auf einer Tagung des SED-Zentralkomitees ein Aktionsprogramm beschlossen, das man durchaus als Konzeption für einen grundlegend erneuerten Sozialismus in den neunziger Jahren bezeichnen konnte. Es wurde am 10. November veröffentlicht. Wegen der Öffnung am 9. November wurde es in der Öffentlichkeit schon gar nicht mehr wahrgenommen.

Dieser Text gehört zu einer Sonderausgabe, die die Mitteldeutsche Zeitung zum 25-jährigen Jubiläum des Mauerfalls am 9. November veröffentlicht. Übrigens die erste Sonntagsausgabe in der Geschichte der MZ. Abonnenten finden die Sonderausgabe mit Reportagen, Analysen, Porträts und Interviews am Sonntag in ihrem Briefkasten.

Interessierte Leser ohne Abo haben die Möglichkeit, die gedruckte Sonderausgabe zum Preis von 2,50 Euro (zzgl. Versand) oder als PDF zum Download zu erwerben. Die Bezahlung erfolgt per Paypal. Alle Einzelheiten zur Bestellung finden Sie hier: Sonntagsausgabe Bestellformular.

Böhmer: Ich bezweifle, dass das überzeugt hätte. Mehr Demokratie heißt am Ende auch freie Wahlen. Und nicht so eine Wahl wie die Kommunalwahl, an die wir uns gemeinsam erinnern. Ich glaube nicht, dass die SED über 50 Prozent gekommen wäre. Freie Wahlen hätten die politischen Strukturen verändert. Sie hätten damit nichts anderes erreicht als das, was letztlich eingetreten ist: Eine völlige Verschiebung der politischen Strukturen. Dass die Diktatur des Proletariats die höchste Form der Demokratie sein soll, hat doch ernsthaft schon damals niemand geglaubt.

Krenz: Die Demokratiefrage hat in vielen DDR-Jahren eine andere Rolle gespielt als 1989. Die Demokratie wurde vor allem in den Betrieben praktiziert. Wenn Sie in die Betriebe und LPG gegangen sind, Herr Böhmer, dann gab es dort ein viel größeres Mitspracherecht der Arbeiter als heute. Was die Kommunalwahlen betrifft, da gibt es nichts zu schönen. Ich habe die politische Verantwortung dafür übernommen, obwohl ich selbst weder Wahlen gefälscht noch dazu angestiftet hatte. Wäre es anders gewesen, hätte mich die bundesdeutsche Justiz dafür vor Gericht gestellt.

Böhmer: Nach meiner Erinnerung gab es in der DDR eine mehr oder weniger erzwungene, vorbeugende Demutshaltung gegenüber der Obrigkeit. Ich habe genügend Leute sprechen können, die in den Betrieben die Statistik gemacht haben. Der Fünf-Jahres-Plan musste erfüllt werden und es war ein bestimmter Grad der Übererfüllung vorgegeben. Wie man das schafft, war das Problem der Statistiker, nicht der Arbeiter. Sie sind doch mit fingierten Statistiken gefüttert worden. Und ich glaube Ihnen aufs Wort, dass Sie nicht vorgegeben haben, wie das bei den Kommunalwahlen sein sollte. Aber alle, die Wahlergebnisse aus den Kreisen und Bezirken gemeldet haben, wollten der Obrigkeit ein ordentliches Ergebnis abliefern. Die Zensur begann schon im Kopf. Das war das Klima, das die Leute weg haben wollten.

Krenz: Da widerspreche ich Ihnen nicht. Das liegt aber lange zurück. Die Leute bewegt das heute kaum noch. Viele von ihnen haben inzwischen existenzielle Sorgen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite den zweiten Teil des Interviews.

Wie haben Sie den Mauerfall erlebt?

Böhmer: Das war eine Zäsur, von der ich ausgehe, dass Herr Krenz sie so nicht gewollt hat. Mein zweiter Eindruck war: Es wird nie wieder so werden, wie es mal war. Wenn diejenigen, die fast 28 Jahre eingesperrt waren, einmal in den Westen geschaut haben - die kommen nicht zufrieden zurück. Die wollen dann, dass es bei uns so ähnlich wird.

Krenz: Wir wollten am 10. November die Grenze zwischen beiden deutschen Staaten von der Ostsee bis zum Erzgebirge und auch in Berlin öffnen, damit die Bürger auch nach Westen reisen konnten. Das hatte ich bereits in meiner Rede am 18. Oktober 1989 versprochen. Beschlossen wurde dies sowohl von der Regierung als auch dem SED-Zentralkomitee. Das war am 9. November 1989.

Die berühmte Szene mit dem Zettel: Hat Schabowski das wirklich vermasselt?

Krenz: Wahrscheinlich nicht bewusst. Es war eher Schussligkeit. Er hatte zunächst die vorbereitete Pressemitteilung korrekt verlesen. Da diese ursprünglich erst am 10. November ab vier Uhr morgens veröffentlicht werden sollte, hätte er nur sagen müssen: Die Verordnung tritt ab morgen in Kraft. Stattdessen sagte er „sofort“ und „unverzüglich“: Was heute unredlich als „Sturm auf die Mauer“ bezeichnet wird, war damals die Wahrnehmung einer auf einer Pressekonferenz ausgesprochenen Einladung durch ein SED-Politbüromitglied, die Grenze passieren zu können. Nun strömten viele Berliner zu den Grenzübergängen. Wahrlich nicht in der Absicht, die Mauer zu stürmen, sondern die Einladung Schabowskis, die schnell über die Medien transportiert worden war, anzunehmen. Da die Grenzsoldaten aber zur Öffnung zu diesem Zeitpunkt noch keine Befehle hatten, entstand eine chaotische Situation, die leicht hätte in bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen umschlagen können. Sogar die vier Großmächte hätten dabei einbezogen werden können. Wir standen einer militärischen Lösung näher, als das viele heute wahrhaben wollen.

Böhmer: Ich habe Respekt vor den Leuten an der Grenze, die letztlich selbst überrumpelt worden sind.

Krenz: Das sind die eigentlichen Helden des 9. November! Die Gefahr, dass der Abend in einer Katastrophe hätte enden können, war äußerst groß. Ich habe in dieser Nacht nicht geschlafen. Ich war am frühen Morgen nicht der glücklichste Deutsche, weil die Grenze geöffnet worden war. Ich war der glücklichste Deutsche, weil die bewaffneten Kräfte der DDR Schlimmes verhindert haben.

Dieser Text gehört zu einer Sonderausgabe, die die Mitteldeutsche Zeitung zum 25-jährigen Jubiläum des Mauerfalls am 9. November veröffentlicht. Übrigens die erste Sonntagsausgabe in der Geschichte der MZ. Abonnenten finden die Sonderausgabe mit Reportagen, Analysen, Porträts und Interviews am Sonntag in ihrem Briefkasten.

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Der Druck, der sich damals entladen hat, begann mit dem Mauerbau. Es fehlte die Freiheit. War der Mauerbau der Anfang vom Ende der DDR?

Krenz: Das ist mir zu einfach. Ich bestreite ja nicht, dass die DDR daran interessiert war, dass ihre Bürger blieben. Die Mauer war aber keine Erfindung der DDR. Die Warschauer Vertragsstaaten hatten beschlossen, ihre Grenze zu den Nato-Staaten militärisch zu sichern. Den Befehl dazu hatte der sowjetische Ministerpräsident Chruschtschow gegeben. US-Präsident Kennedy hat dies als „keine schöne Lösung, aber besser als Krieg“ kommentiert.

Sie mussten im Herbst 1989 auslöffeln, was damals eingebrockt wurde?

Krenz: Auch. Aber: Als die inneren und äußeren Schwierigkeiten der DDR zunahmen, als sich die Realität des Alltags mehr und mehr von unseren Idealen entfernte, verlernte das Politbüro; auf die Stimmung der Bevölkerung zu hören. Es ignorierte die warnenden und mahnenden Stimmen aus den eigenen Reihen und der Bevölkerung. Es verweigerte sich der Analyse der Gründe für die zunehmende Abkehr von Bürgern von unserem Staat. Die DDR-Wirklichkeit hatte sich mehr vom Ideal entfernt, als die Bevölkerung hinnehmen wollte. Als im Sommer 1989 die Stimmung umkippte, herrschte in der politischen Führung leider Sprachlosigkeit. Sie hat zur Vertiefung der innenpolitischen Krise der DDR beigetragen. Ich will nicht spekulieren, was wäre wenn? Ich bin überzeugt, ein offenes Wort zur rechten Zeit hätte geholfen, mehr Verständnis für die entstandene Lage zu erreichen.

Böhmer: Wenn die Probleme der DDR mit einer großen Offenheit diskutiert worden wären, hätte man vielleicht einen Teil der Bevölkerung für eine Lösung, auch wenn sie schmerzhaft gewesen wäre, mitnehmen können. Unser Problem in der DDR war aber doch: Jeden Tag waren wir die Allerbesten und haben den Plan erfüllt - am Ende hat es aber nicht gestimmt.

Krenz: Ja, wir hatten oft in der Zeitung gesiegt - leider nicht immer im praktischen Leben und in den Betrieben.

Böhmer: Und es gab eine wahnsinnige Angst in der DDR vor etwas, was auch heute noch schwierig ist: das Zurückfahren von Sozialleistungen. Wenn man sagt, wir können uns dies und das nicht mehr leisten, wir müssen ein paar Sparmaßnahmen machen, haben Sie heute die Leute auf der Straße. Und wir haben zu DDR-Zeiten nicht mal gewagt, das auszusprechen.

Krenz: Doch, haben wir. Hier spielt aber eine Rolle, dass viele aus dem Politbüro aus ganz einfachen sozialen Verhältnissen kamen. Immer, wenn unser Preissystem und die dafür notwendigen Subventionen zur Debatte standen, erinnerten sie sich an die schwierigen Verhältnisse im kapitalistischen Deutschland. Ich erinnere mich, dass Honecker Preiserhöhungen oft mit dem Argument abwehrte: Wenn wir die Lebensmittel teurer machen, belasten wir in erster Linie die Werktätigen.

Böhmer: Herr Honecker wusste wahrscheinlich nicht, dass Leute das billige Brot kauften, um zu Hause damit die Kaninchen und Hühner zu füttern.

Krenz: Das wurde schon zur Kenntnis genommen. Deshalb war eine Lösung im Gespräch, bei möglichen Preiserhöhungen die unteren Lohngruppen zu subventionieren, um die Preiserhöhungen nicht auf die Werktätigen mit niedrigeren Löhnen abzuwälzen. Bessere Lösungen hatten wir nicht.

Böhmer: Ich werfe bestimmte Subventionen auch nachträglich niemandem vor. Wenn man sich die Strompreispolitik in der Gegenwart anguckt, ist das ja das Gleiche. Wir kaufen den Strom teurer von den einzelnen Erzeugern mit den Photovoltaik-Anlagen auf den Dächern, als sie ihn zurückkaufen. Und ich kann mich erinnern, wie ich vielleicht vor fünf oder sechs Jahren einmal eine Genossenschaft besichtigt habe, die hatte die ganzen Scheunendächer voller Photovoltaik. Da habe ich gesagt: Ihr seid aber modern, ihr erzeugt euren Strom selbst. Da haben die mich ausgelacht und gesagt: Wir sind doch nicht dumm, wir verkaufen den Strom teuer und kaufen billig zurück. So etwas haben wir früher auch schon gemacht. So kann Wirtschaft nicht funktionieren.

Krenz: Nur heute hat man die Möglichkeit, den erhöhten Strompreis auf die Bevölkerung abzuwälzen. Diese Möglichkeit wollten wir nicht. Die soziale Frage hat bei uns eine viel größere Rolle gespielt. Allerdings haben Sie Recht, Herr Böhmer: Wenn wir das Problem offen mit der Bevölkerung diskutiert hätten, hätten wir vielleicht sogar Zustimmung bekommen.

Böhmer: Dafür haben wir Kaufkraft mit Autos und sogenannten Luxusgütern abgeschöpft.

Lesen Sie auf der nächsten Seite den dritten Teil des Interviews.

Herr Böhmer, sagen Sie uns: Was war denn gut in der DDR?

Böhmer: Dass man versucht hat, Chancengleichheit zu organisieren, wenigstens zum Beginn einer beruflichen Entwicklung. Dazu wurden soziale Unterschiede nivelliert - allerdings auch leider neue, politisch gewollte, aufgebaut.

Krenz: Und es gab Vollbeschäftigung. Keine Obdachlosigkeit - auch ein Dach über dem Kopf, selbst wenn die Wohnung nicht immer so war, wie man sie sich vorgestellt hatte. Wer studierte, bekam ein Stipendium. 1990/91 sind viele überrascht gewesen, dass sich plötzlich alles rechnen musste. In der DDR war der Mensch kein „Rechnungsfaktor“.

Böhmer: Herr Krenz, Ja und Nein. Der Mensch muss sich nicht rechnen. Aber man muss von den Menschen verlangen, dass sie mitrechnen.

Krenz: Das war auch unsere Meinung.

Böhmer: Wer mitgerechnet hatte, kam aber zu anderen Ergebnissen als diejenigen, die uns vorgerechnet wurden. Ich habe selber noch die Zeit der Absolventenlenkung erlebt und wie viele darüber geklagt haben. Als Ministerpräsident habe ich von Omas empörte Briefe bekommen, dass ihre Enkel ein gutes Examen gemacht haben und keine Arbeit finden, da müsse sich ein Staat doch drum kümmern! Fürsorge darf aber nicht dazu führen, dass man die Menschen aus der eigenen Verantwortung entlässt.

Krenz: Das war nie die Intention der DDR-Führung. Millionen DDR-Bürger haben gern Verantwortung für sich und die Gemeinschaft getragen.

Böhmer: Wir reden nicht von der gleichen Form einer Mitverantwortung. Sie wollten einen fürsorglichen Staat, der sich zu einem vormundschaftlichen Staat entwickelt hat. Wir sollten eine vorgegebene, sogenannte eigene Weltanschauung entwickeln, durften uns die Welt aber nicht selbst anschauen.

Krenz: Die Sorge um den Menschen war wichtig für die ganze DDR-Politik. Dass es dabei auch Übertreibungen und vielleicht hier und da sogar Entartungen gegeben hat, will ich nicht bestreiten.

Herr Krenz, Ihr Buch „Herbst 1989“ ist sehr detailliert. Warum haben Sie es geschrieben? Ging es Ihnen um das letzte Wort zu Ihrer Geschichte - oder hadern Sie sogar damit?

Krenz: Wer hadert nicht, wenn sich die eigenen Ideale nicht realisieren? „Herbst 89“ ist mein Wendetagebuch. Im Nachhinein ist man immer klüger. Ich habe das Buch in der jetzigen, dritten Auflage nicht verändert. Die Nähe zu 1989 wollte ich nicht dadurch schmälern, dass ich aus heutiger Sicht schreibe. Was ich aus unmittelbaren Eindrücken niedergeschrieben habe, habe ich erlebt. Meine Erinnerungen habe ich bei Studien im Bundesarchiv mit den dort gelagerten Akten verglichen.

Ging es Ihnen auch darum, sich nach Ihrer Inhaftierung zu rechtfertigen?

Krenz: Nein. Als ich das Buch schrieb, war ich noch in Freiheit. Ich gebe aber zu, dass mich die Entstellung der DDR-Geschichte seit 1990 ärgert. Ich möchte beitragen, die DDR darzustellen, wie sie war: Mit ihren Höhen und Tiefen, ihren Siegen und Niederlagen, ihren geschichtlichen Leistungen und ihren Defiziten. Das ist aber mit einem Schmähbegriff wie Unrechtsstaat nicht möglich. Solche Etiketten lassen keinen Raum zur Differenzierung.

Herr Böhmer, was haben Sie damals gedacht, als Herr Krenz inhaftiert wurde?

Böhmer: Das Grundgesetz ist nicht dafür geeignet, solche staatlichen Strukturen aufzuarbeiten, wie die DDR es war. Schon wenn wir uns darüber unterhalten, ob die DDR Unrechtstaat oder Rechtsstaat war, kommen wir nicht zusammen. Nach der Meinung der Rechtshistoriker ist jeder Staat ein Rechtsstaat, der ein kodifiziertes Recht hat, nach dem er sich richtet. Das hatte auch die DDR. Aber da standen Sachen drin, nach denen sie sich selber nicht gerichtet hat.

In der Verfassung stand das Post- und Fernmeldegeheimnis - und täglich wurde von vielen Leuten die Post kontrolliert. Wenn einer so etwas als Unrechtsstaat bezeichnet, dann kann ich das verstehen. Das kodifizierte Recht war interpretationsfähig und nicht einklagbar. Die Deutung übernahmen die Repräsentanten der selbsterklärten Diktatur. Bei Herrn Krenz lese ich häufiger den Satz, wir haben auch Fehler gemacht, aber wir haben etwas Gutes gewollt, und eigentlich hat uns die Sowjetunion im Stich gelassen. Das Buch hätte man benennen können: „Wir haben fast alles richtig gemacht, nur die anderen nicht“. Wir beide haben eine sehr unterschiedliche Sicht auf diese Vergangenheit.

Krenz: Allerdings scheint mir, dass Sie eben meine Sicht auf die DDR etwas vereinfacht wiedergeben. Ich bin in meinem Buch wesentlich differenzierter als man mir gemeinhin zutraut. Was nun meine Inhaftierung betrifft, die hake ich erst einmal ab. Ich habe über vier Jahre gesessen. Ich glaube, die Bundesrepublik hat sich mit den Prozessen gegen DDR-Hoheitsträger keinen guten Dienst erwiesen. Um uns verurteilen zu können, musste sie eine heilige Kuh des Rechtsstaates opfern: das uralte Rückwirkungsverbot. Das wird in der Rechtsgeschichte keinen Bestand haben können.

Böhmer: Ich habe jetzt nicht die Verurteilung zu verteidigen. Aber ich will nur sagen, dass es viele Menschen gegeben hat, die in der DDR gelitten haben, die sich ungerecht behandelt gefühlt haben, die eingesperrt waren für Sachen, die woanders kein Grund gewesen wären, Menschen einzusperren. Wenn man dann am Ende sagt, die DDR hat es zwar gegeben, und diese ganzen Unrechtstatbestände wollen wir gar nicht leugnen, aber sie wurden nur durchgeführt von nicht Zuständigen - das wäre für niemanden zumutbar gewesen. Am Ende musste die Zuständigkeit einen Namen haben. Wer die wie auch immer beschriebenen Erfolge auf sich bezieht, muss auch für alles andere einstehen.

Krenz: Individuelle Schuld am Grenzregime und an deren Praktizierung kann man mir aber nicht nachweisen. Dennoch habe ich vor Gericht gesagt - darauf lege ich großen Wert - dass jeder Tote an der Grenze einer zu viel war. Nur ich weiß bis heute nicht, wie das hätte verhindert werden sollen. Die Grenze war eben keine innerdeutsche, sondern eine Block-, System- und Wirtschaftsgrenze. Selbst Gorbat- schow hatte dem Berliner Landgericht geschrieben, man könne die DDR nicht für den Kalten Krieg verantwortlich machen. Er sprach sogar von einer „Hetzjagd“.

Lesen Sie auf der nächsten Seite den vierten und letzten Teil des Interviews.

Herr Krenz, Sie sind automatisch Bundesbürger geworden. Ist das heutige Deutschland Ihr Deutschland? Oder warten Sie auf den nächsten Sozialismusversuch?

Krenz: Ich unterscheide zwischen dem Land, in dem ich gern lebe und seinem politischen System. Der Kapitalismus ist für mich nicht das letzte Wort der Geschichte. Als der Bundestag 1949 das Grundgesetz beschloss, hatte KPD-Chef Max Reimann gesagt, es werde die Zeit kommen, dass seine Genossen dieses gegen jede Verletzung verteidigen müssen. Das sehe ich genauso. Es wird gegenwärtig viel zu oft dagegen verstoßen. Es ist doch kein Lob für die Politiker, wenn das Bundesverfassungsgericht immer öfter korrigierend eingreifen muss. Und was meine Heimat betrifft: Das schönste Land ist für mich das Fischland. Am Tor dahin liegt meine Heimat Dierhagen, unweit von Damgarten, wo ich meine Kindheit verlebt habe. Hier bin ich zu Hause.

Herr Böhmer, warten Sie auf den nächsten Sozialismusversuch?

Böhmer: Nein. Auch wenn ich nicht behaupte, dass die Welt in Ordnung ist. Wir haben auch das eine oder andere Problem, das besser gelöst werden könnte. Aber ich bin überzeugt, dass der beste Weg ist, Mehrheiten dafür zu organisieren. Ich bin froh, dass wir die Zeit überwunden haben, wo Leute für uns gedacht haben, was für uns das Beste sein könnte. Man muss die Menschen mitnehmen und eine andere Meinung aushalten können. Das halte ich für eine ganz wichtige Errungenschaft und hoffe, dass das so bleiben wird.

Sie beide halten die jeweils andere Meinung recht gelassen aus.

Böhmer: Unterschiedliche Meinungen auszuhalten und sich menschlich nicht an den Hals zu gehen: Das gehört zur Demokratie und das sollte uns erhalten bleiben. Auch wenn wir unterschiedliche Ausgangspositionen und Meinungen haben, müssen wir als Menschen fair miteinander umgehen. Wenn wir das verlieren, dann gehen die Grundlagen der Demokratie verloren.

Mir geht es hier nur darum, dass wir die Erfahrungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Systeme auswerten. Ich betrachte die DDR als eine missglückte gesellschaftliche Lösung. Die ist nicht so aufgegangen, das unterstelle ich mal, wie Sie sich das gedacht haben, Herr Krenz. Bestimmte Fehler sollte man nie wieder machen.

Krenz: Was geglückt und was missglückt ist, darüber lässt sich streiten. Einig sind wir uns offensichtlich, dass – wie Sie sagen – man bestimmte Fehler nie wieder machen sollte. Wenn ich Sie richtig verstehe, sehen auch Sie die Realität in der DDR differenzierter als diese oft gemacht wird. Ich glaube daran, dass es so viele Sichten auf die DDR gibt, wie sie einst Bürger hatte. Jeder hat die DDR auf seine Weise erlebt. Jeder muss selbst bestimmen, was ihm die DDR bedeutete. Ich wäre schon zufrieden, würde man die DDR nicht schlechter machen als sie war und die Bundesrepublik nicht besser als sie ist.

Böhmer: Man muss jedem seine eigene Erinnerung lassen. Ich habe kein Recht, jemandem vorzuschreiben, wie er seine Vergangenheit zu interpretieren hat. Deshalb kann ich auch darauf verzichten, mir meine Vergangenheit fremderklären zu lassen. (mz)

Wolfgang Böhmer hält die DDR für eine missglückte gesellschaftliche Lösung, aus der man lernen müsse: „Bestimme Fehler sollte man nie wieder machen.“
Wolfgang Böhmer hält die DDR für eine missglückte gesellschaftliche Lösung, aus der man lernen müsse: „Bestimme Fehler sollte man nie wieder machen.“
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Egon Krenz fordert eine differenzierte Sicht auf die DDR und meint: „Der Kapitalismus ist nicht das letzte Wort der Geschichte.“
Egon Krenz fordert eine differenzierte Sicht auf die DDR und meint: „Der Kapitalismus ist nicht das letzte Wort der Geschichte.“
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Egon Krenz meint: „Ich glaube daran. dass es so viele Sichten auf die DDR gibt, wie sie einst Bürger hatte.“
Egon Krenz meint: „Ich glaube daran. dass es so viele Sichten auf die DDR gibt, wie sie einst Bürger hatte.“
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Wolfgang Böhmer: „Deshalb kann ich auch darauf verzichten, mir meine Vergangenheit fremderklären zu lassen.“
Wolfgang Böhmer: „Deshalb kann ich auch darauf verzichten, mir meine Vergangenheit fremderklären zu lassen.“
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