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Dokumentation Dokumentation: Brief Raus an Kanzler (Auszug)

20.06.2002, 11:52

«Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, am 17. April 2002 ist mir dasZuwanderungsgesetz zur Ausfertigung gemäß Artikel 82 Absatz 1 Satz 1des Grundgesetzes zugeleitet worden. Der Deutsche Bundestag hat dasGesetz am 1. März 2002 verabschiedet. Am 22. März 2002 hat derBundesrat beschlossen, dem Gesetz gemäß Artikel 84 Absatz 1 desGrundgesetzes zuzustimmen (vergleiche Bundesrats- Drucksache 157/02vom selben Tage). Gegen diesen Beschluss sind verfassungsrechtlicheEinwände erhoben worden. Sie betreffen die Frage, ob die vier Stimmendes Landes Brandenburg vom Präsidenten des Bundesrates zu Recht als'Ja'-Stimmen gewertet worden sind; wäre das nicht der Fall, hätte dasGesetz die für eine Zustimmung des Bundesrates erforderliche Mehrheitvon 35 Stimmen nicht erreicht. Das Gesetz wäre nicht zu Standegekommen.

Ich habe das Zuwanderungsgesetz wie jedes andere Gesetz sorgfältigauf seine Verfassungsmäßigkeit überprüft. Ich habe mich mit demtatsächlichen Ablauf der Sitzung und der Abstimmung und mit den sichdaraus ergebenden verfassungsrechtlichen Fragen eingehend befasst.

Ich habe viele Gespräche geführt und ich habeverfassungsrechtlichen Rat erfahren.

Nach Abwägung aller Gesichtspunkte habe ich das Zuwanderungsgesetzheute Morgen ausgefertigt und den Auftrag zur Verkündung imBundesgesetzblatt erteilt. Nach der Kompetenzordnung desGrundgesetzes und nach der Staatspraxis ist der Bundespräsident nurdann berechtigt und verpflichtet, von der Ausfertigung eines Gesetzesabzusehen, wenn er die sichere Überzeugung gewonnen hat, dasszweifelsfrei und offenkundig ein Verfassungsverstoß vorliegt. Zudieser Überzeugung bin ich im vorliegenden Fall nicht gekommen.

I. Ich möchte Ihnen die wichtigsten Gesichtspunkte für meineEntscheidung erläutern. Den maßgeblichen Sachverhalt darf ich alsbekannt voraussetzen; ich möchte ihn hier nur kurz rekapitulieren:Als das Land Brandenburg zur Stimmabgabe aufgerufen wurde, habenzunächst Minister Ziel mit 'Ja' und Minister Schönbohm mit 'Nein'gestimmt. Daraufhin hat der Präsident des Bundesrates auf das Gebotder einheitlichen Stimmabgabe hingewiesen und an denMinisterpräsidenten des Landes Brandenburg die Frage gerichtet, wiedas Land abstimme. Ministerpräsident Stolpe hat geantwortet: 'AlsMinisterpräsident des Landes Brandenburg erkläre ich hiermit Ja.' Demhat Minister Schönbohm angefügt: 'Sie kennen meine Auffassung, HerrPräsident.' Der Präsident des Bundesrates hat daraufhin dieStimmabgabe des Landes Brandenburg als 'Ja' gewertet. Nach dendagegen protestierenden Zwischenrufen anderer Mitglieder desBundesrates hat der Präsident des Bundesrates erneutMinisterpräsident Stolpe gefragt, dieser hat seine Antwortwiederholt; Minister Schönbohm hat dem keine Äußerung mehr folgenlassen.

Kern des verfassungsrechtlichen Streits ist die Auslegung vonArtikel 51 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes. Er enthält das Gebot,dass bei einer Abstimmung im Bundesrat die Stimmen eines Landes 'nureinheitlich abgegeben' werden können. Zu dieser Vorschrift gibt eskeine Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In derverfassungsrechtlichen Literatur ist ihre Auslegung umstritten.