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25 Jahre Mauerfall 25 Jahre Mauerfall: Hans-Dietrich Genscher, der Mann vom Balkon

Von Holger Schmale 29.09.2014, 15:38

Der Zeitpunkt ist exakt festgehalten worden. Es ist 18.58 Uhr, als sich am Abend des 30. September 1989 die Türen zum Balkon in der Beletage des Palais Lobkowitz in Prag öffnen und Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher mit einigen anderen Männern hinaustritt. An die 5000 DDR-Bürger stehen in der Dunkelheit unter ihm im einstigen Park der Botschaft, der sich in den vergangenen Wochen unter den Füßen der Menge zu einem Flüchtlingslager auf sumpfigem Acker verwandelt hat.

Genscher stellt sich hinter ein notdürftig an der Brüstung befestigtes Megafon und spricht die berühmtesten Worte seines viele Jahrzehnte währenden politischen Lebens: „Liebe Landsleute! Im Namen der Bundesrepublik begrüße ich Sie als Deutsche unter Deutschen. Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“ Der Jubel im Garten bricht los, und die drei entscheidenden Worte „… möglich geworden ist“ gehen im allgemeinen Tumult unter. Allen war schon vorher klar gewesen, dass der Bonner Minister nicht mit leeren Händen nach Prag gekommen sein konnte.

Genscher hat diese Minuten die bewegendsten seines Lebens genannt. Weil ihm das Schicksal der Menschen naheging, die lange Wochen unter kaum beschreibbaren Umständen auf dem Botschaftsgelände kampierten, nachdem sie zuvor ihre Existenz in der DDR aufgegeben hatten. Einen Weg zurück gab es für sie nicht. Bewegend aber auch, weil Genscher nach eigenem Bekunden schon damals klar war, welch historische Bedeutung dieser Tag haben würde.

Auf dem Flug von New York, wo er am Rande der UN-Vollversammlung mit dem sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse und dem Ost-Berliner Außenamtschef Oskar Fischer die Bedingungen für die Ausreise der Prager Flüchtlinge ausgehandelt hatte, notiert er für seine Erinnerungen: „Die DDR ist am Ende. Was sich hier vollzieht, ist im Grunde der Zusammenbruch der DDR von innen und von unten; das Ende der Mauer rückt in Sichtweite.“

Es ist nicht so, dass der DDR-Führung um Erich Honecker die Tragweite dieser Ereignisse verborgen geblieben wäre. Es war klar, dass ihnen die Kontrolle über die Ereignisse entglitt, wenige Tage, bevor die SED den 40. Jahrestag ihrer Republik triumphal feiern wollte. Das ist der Grund, weshalb sie ihren Unterhändler in Flüchtlingsfragen, den Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, rastlos zwischen Prag. Warschau und Bonn herumreisen ließ, um eine die Fassade irgendwie noch wahrende Lösung für die Flüchtlinge auszuhandeln. Sie sollte lauten: Allen in westdeutschen Botschaften untergeschlüpften DDR-Bürgern wird die Ausreise in die Bundesrepublik innerhalb von sechs Monaten versprochen, wenn sie zuvor in die DDR zurückkehren.

Als Vogel in Begleitung seines Anwaltskollegen Gregor Gysi am 26. September Vertretern der Flüchtlinge in der Prager Botschaft dieses Angebot unterbreitet, schlägt ihm eisige Ablehnung entgegen, er wird ausgepfiffen und ausgelacht. Er erkennt, das er hier nichts mehr ausrichten kann und teilt das seinen Auftraggebern in Ost-Berlin mit.

Zur gleichen Zeit führt Genscher seine Gespräche in New York. Am 27. September übermittelt er seinem DDR-Kollegen Fischer die Bonner Lösungsvorschläge: Entweder die DDR schickt Konsularbeamte in die westdeutsche Botschaft in Prag, sie stempeln Ausreisevisa in die Pässe, und die Flüchtlinge können direkt in die Bundesrepublik ausreisen. Oder die Bürger werden mit Zügen über das DDR-Territorium nach Westdeutschland transportiert. Fischer muss das erst mit Ost-Berlin besprechen.

Am Tag darauf trifft Genscher sich mit Schewardnadse und gewinnt ihn als Verbündeten. Jetzt übt Moskau direkt massiven Druck auf die Genossen in der DDR aus. Die maximale Drohung: Wenn die DDR die Flüchtlinge nicht ziehen lässt, sagt Michail Gorbatschow seinen Besuch der Feiern zum 40. Jahrestag in Ost-Berlin ab. Am 29. September versammelt Erich Honecker das Politbüro der SED am Rande einer Feier zum 40. Jahrestag der Volksrepublik China in der Staatsoper in einem Nebenraum und teilt den Mitgliedern die aus ihrer Sicht bittere Entscheidung mit: Am folgenden Abend würden vier Züge der DDR-Reichsbahn die Botschaftsbesetzer über Dresden nach Hof in Bayern bringen. Dass die Ausreisenden auf ihrem Weg in den Westen die DDR passieren müssen, ist ein letztes Zugeständnis an Ost-Berlin, ein letzter Anschein von Souveränität. Das Neue Deutschland versucht, der Sache eine humanitäre Note zu geben: Die DDR habe ihre Zusage gegeben, weil sonst die Gefahr eines Seuchenausbruchs in Prag bestanden hätte.

Das allerdings war gar nicht so weit hergeholt, denn die hygienischen Verhältnisse in der Botschaft hatten sich im September drastisch verschlechtert. Es war kalt und regnerisch geworden, Grippe und Durchfallerkrankungen machten die Runde, und Gerüchte: Es gebe Hinweise auf den Ausbruch von Ruhr auf dem Gelände.

Tatsächlich fahren dann sechs Züge durch die Nacht. Entlang der Strecke in der DDR herrscht Ausnahmezustand. Tausende hoffen, hier noch irgendwie in die Züge zu gelangen. Die DDR-Führung lässt die Bahnhöfe räumen, Gleise und Brücken scharf bewachen. In Reichenbach, nach der tschechoslowakischen Grenze, halten die Züge kurz und Stasi-Mitarbeiter steigen zu. Sie sammeln von allen die Ausweise ein, wohl auch, um überhaupt einen Überblick zu bekommen, wer die 4700 Bürger sind, die ihren Staat da auf einen Schlag verlassen. Das bringt für die in ihrem neuen Leben durchaus Probleme, denn viele kommen nun ohne irgendwelche Personalpapiere in die Bundesrepublik. Dort aber werden sie begeistert empfangen. Auf den Bahnhöfen in Bayern spielen Blaskapellen, die Honoratioren und viele Bürger stehen zur Begrüßung an den Gleisen. Sie haben Essen, Trinken und Kleider für die Flüchtlinge dabei, die seit Wochen nur mit dem Allernötigsten auskommen mussten.

Die Hoffnung, mit dieser Aktion würde in der Prager Botschaft wieder Ruhe und Alltag einkehren, täuschte allerdings. Schon wenige Tage später haben sich wieder Tausende dort eingefunden. Sie können dann aber ohne großes Aufsehen direkt in die Bundesrepublik ausreisen. Am 4. Oktober stoppt die DDR den Exodus noch einmal, indem sie die Visumpflicht für Reisen in die CSSR einführt. Die Feierlichkeiten zum Staatsjubiläum sollen nicht mehr gestört werden. Michail Gorbatschow reist nun nach Ost-Berlin und sagt dort den zum Sprichwort gewordenen Satz: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ – oder so ähnlich, das Zitat ist wohl ein wenig begradigt worden.

Einen Monat später vollendet sich Hans-Dietrich Genschers Vision aus dem Flugzeug: Das Ende der Mauer ist nicht mehr nur in Sichtweise. Sie ist gefallen.