Pharma-Prozess Pharma-Prozess: Missbildung durch Bayer-Medikament?

Berlin/dpa. - Der Vorwurf schwerer Missbildungen durch dasMedikament Duogynon kommt 30 Jahre nach einem eingestellten Verfahrenerneut vor Gericht. Ein von Geburt an behinderter Mann aus dem Allgäuverlangt in einer Musterklage von Bayer Schering Pharma Einsicht insämtliche Unterlagen über das umstrittene Hormonpräparat. Der Fallwird am Dienstag am Landgericht verhandelt.
Der Mutter des Klägers André Sommer war das Medikament 1975 alsSchwangerschaftstest verabreicht worden, obwohl es in Großbritannienzu diesem Zweck schon nicht mehr benutzt werden durfte. Die heuteüblichen Urintests gab es damals noch nicht.
Die Betroffenen sehen Parallelen zum Contergan-Skandal. BayerSchering weist die Vorwürfe zurück. «Das Thema wurde in den 60er und70er Jahren juristisch und wissenschaftlich ausgiebig undabschließend erörtert. Seitdem gibt es keine neuen Erkenntnisse»,sagte Bayer-Sprecher Oliver Renner. Es sei kein Zusammenhang zwischenDuogynon und Missbildungen bei Kinder festgestellt worden.
Das stellen André Sommer und 200 weitere Betroffene infrage undverlangen nun in einem zweiten Anlauf Aufklärung. Auch weitereDokumente aus Großbritannien sind aufgetaucht, wonach ScheringDeutschland schon früh von britischen Kollegen über möglicheMissbildungsrisiken informiert wurde.
In den 60er und 70er Jahren hatten viele Mütter, deren Kinder mitschweren Fehlbildungen wie Wasserkopf, offenem Bauch, offenem Rückenoder Missbildungen der inneren Organe und Extremitäten, geborenwurden, in der Frühschwangerschaft das Medikament genommen. DerMedizin-Fachanwalt Jörg Heynemann, der die Betroffenen und voranAndré Sommer vertritt, nennt die Zahl von rund 1000 Geschädigten, dieallein in Deutschland leben. «Viele Frauen hatten auch Fehlgeburten,oder das behinderte Kind starb kurz nach der Geburt.»
Sommer (34), der schwere Missbildungen an Blase undGeschlechtsteilen hat, die regelmäßig neue Operationen erfordern,will zunächst Einsicht in die internen Akten. Denn Schering hatte dasumstrittene Medikament bereits 1970 in Großbritannien nicht mehr alsSchwangerschaftstest verkauft. Dort waren damals kritische Studienveröffentlicht worden. Andere Studien hingegen konnten keinenstatistisch signifikanten Zusammenhang zwischen der Einnahme desHormonpräparates und Missbildungen finden.
Duogynon wurde als Dragee oder Injektion in den 60er und 70erJahren sowohl als Schwangerschaftstest als auch zur Behandlungausbleibender Monatsblutungen eingesetzt. Binnen einer Woche nach derEinnahme des Präparates, einer Kombination der weiblichenSexualhormone Progesteron und Östradiol, wurde eine Blutungausgelöst. Blieb diese aus, war eine Schwangerschaft wahrscheinlich.Bereits 1960 gab es erste Hinweise, dass Blutungen jedoch auch trotzbestehender Schwangerschaft eintreten können.
In Deutschland wurde Duogynon bis in die späten 70erSchwangerschaftstest eingesetzt - zunächst als Dragee und später inveränderter chemischer Form als Injektion. Seit Anfang der 80er Jahreist das Mittel auch in Deutschland nicht mehr auf dem Markt.
Anwalt Heynemann berichtet auch von Ärztemustern, die ohne Hinweisauf eine mögliche fruchtschädigende Wirkung ausgegeben wurden. DieAuswertungen dieser Muster-Behandlungen müssten dem Unternehmen javorliegen, sagt der Anwalt. Bislang verwehrt der Pharmakonzern jedochdie Einsicht mit dem Verweis, dass die Vorfälle längst verjährtseien.
Heynemann argumentiert: «Behinderungen verjähren nicht. MeinMandant ist vor fünf Jahren noch operiert worden.» Beim gescheitertenersten Verfahren, das eine Interessengemeinschaft Ende der 70er Jahreanstrengte, sei die rechtliche Lage noch eine ganz andere gewesen.Damals mussten die Patienten den Nachweis erbringen, dass der Schadenzweifellos durch das Medikament entstand. Auch galt Leben erst vomTag der Geburt an als schützenswert. 2002 wurden die Rechte derPatienten durch das neue Arzneimittelgesetz gestärkt, das auch eineReaktion auf die sich hinschleppenden Contergan-Verfahren war.
Sommer, der in einem kleinen Dorf lebt und als Lehrer arbeitet,sieht dem Gerichtstermin gelassen entgegen. Erst 2009, nachdem einbritisches mutmaßliches Duogynon-Opfer bei der Bayer ScheringHauptversammlung in Düsseldorf aufgetreten war und großes Medienechofand, hat Sommer von seinem Vater die Details über den Duogynon-Verdacht erfahren. Via Internet suchte er dann nach weiterenBetroffenen. «Ich habe mein Leben lang nach vorne geblickt. Jetzt kamdas Thema nochmal hoch, und ich will es endlich abschließen. Wenn wirdie Unterlagen einsehen und wir finden nichts, dann ist das für michauch völlig in Ordnung. Ich möchte einfach Klarheit haben.»