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Gesundheit Gesundheit: Das Ende der Pferdespritze

03.07.2009, 17:30

Halle/MZ. - Wenn ich im Krankenhaus war, hatten die teilweise nur die Penicillin-Kanülen, das waren richtige Pferdespritzen. Testgeräte gab es auch nicht. Heute spritze ich das Insulin mit einem Pen, der sieht aus wie ein Kugelschreiber. Das mit dem Zucker ist für mich jetzt deutlich besser.

Am 9. November 1989, meinem 18. Geburtstag, war ich erst ganz normal auf der Arbeit. Nach dem Feierabend habe ich zu Hause mit meinen Eltern angestoßen. Im Fernsehen wurde dann behauptet, dass die Mauer gefallen ist und man einfach rüber kann. Ich habe geglaubt, das ist wie in Ungarn. Dass man kurz flüchten kann, am nächsten Tag aber die Armee aufmarschiert und alles dicht macht. Dann bin ich zeitig ins Bett.

Freitag früh bin ich wieder zur Arbeit gegangen. Im Radio hieß es, die Mauer wäre immer noch offen. Da wollte ich auch mal in den Westen gucken. Ich habe für den Rest des Tages Urlaub genommen. Dann bin ich mit meinem Kumpel Andreas nach Berlin gefahren. Leute über Leute. Schon im Zug war es gerammelt voll. Alle waren fröhlich und neugierig auf den Westen.

Dann sind wir auf den Kudamm. Da wurden Bierwagen aufgefahren, an Kneipen und Diskos stand, dass Ossis umsonst rein dürfen oder ein Bier spendiert bekommen. Wir haben uns dann früh um zwei im U-Bahnhof ausgeruht, da haben überall Leute gelegen. Gegen drei haben wir uns an der Sparkasse angestellt, für das Begrüßungsgeld. Ich habe schließlich gekauft, was ich aus der Werbung kannte. Süßigkeiten und so. In den Kneipen hatte ich aber Angst, dass die mich für einen Junkie halten. Ich musste auf dem Klo mein Insulin spritzen, noch mit den großen Nadeln. Sonnabend waren wir erst abends um acht wieder zu Hause. Da saßen dann schon alle, die Geburtstagstorte war bereits angeschnitten. Als ich meine drei Beutel mit den Süßigkeiten ausgepackt hatte, war der Jubel groß.

Ich komme aus Großgräfendorf, einem Ortsteil von Bad Lauchstädt. Ich mache zur Zeit einen Ein-Euro-Job, bin aber gelernter Maler. "Kreisbaubetrieb Merseburg" hieß mein Lehrbetrieb. Nach der Wende gab es erst Kurzarbeit, dann die Entlassung - wir hatten keine Aufträge mehr. Ich bin dann erst in einem anderen Betrieb untergekommen. Allerdings nicht für lange.

Meine Freundin ist in den Westen gegangen, da bin ich 1991 hinterher, nach Dipperz bei Fulda. Von der Landschaft her war das sehr schön, aber meine Freunde haben mir gefehlt. Die Arbeitskollegen waren recht freundlich. Die wollten viel wissen über die DDR, da war keiner gnatzig.

1996 bin ich zurückgegangen. Aus Heimweh. Vom Geld her gab es im Westen nichts zu sagen. Meine Kumpels haben mir aber so gefehlt. Meine Freundin ist nach der Lehre auch wieder hergekommen als Verkäuferin. Ich habe bei einer Firma in Bad Lauchstädt angefangen, für elf Mark die Stunde. Im Westen waren es einundzwanzig. Wenn ich drüben geblieben wäre, würde es uns vom Geld her besser gehen. Aber Geld ist nicht alles.

Bei der Firma hier habe ich aufgehört, als die Aufträge ausblieben; bei einer anderen war nach drei Jahren auch wieder Schluss. Jetzt mache ich den Ein-Euro-Job. Durch die Diabetes haben sich meine Augen verschlechtert, und ich soll auch nicht so schwer heben. Am liebsten würde ich im Krankenhaus arbeiten, als Betriebshandwerker. Ein Zimmer durchmalen, das kann ich noch. Aber solche Jobs sind selten.

Im Sommer 1989 hatte ich auch mal mit der Stasi zu tun. Auf meinem Weg zur Arbeit hatte einer Schmierereien gegen den Staat gemalt: "Freiheit!" und "Nieder mit der DDR!" Im Betrieb kam mein Lehrmeister zu mir und hat gesagt: "Marco komm` mal runter, da sind zwei vom Betrieb." Da waren dann welche mit Schlips und Kragen, da dachte ich schon, ich kriege eine Auszeichnung. Die waren aber von der Stasi und haben mich mitgenommen. Es gäbe da was zu klären. Die haben mich stundenlang befragt und wollten wissen, mit welcher Farbe wir arbeiten. Das musste ich am Ende dann unterschreiben. Ich durfte niemandem etwas davon sagen. Nach zwei Tagen habe ich das dann meinen Eltern erzählt. Ich konnte nicht anders.

Eine Woche später haben sie mich noch mal abgeholt. Das war wie im Fernsehen: Zwei Mann, mit einer Lampe auf dem Schreibtisch. Ich saß alleine vor denen. Die haben erst gefragt, was meine Oma macht. Und dann haben sie gebrüllt: "Sie warn's! Geben sie es zu!" Und dann wieder normal geplaudert, wollten wissen, wofür ich mich interessiere. Und dann haben die plötzlich wieder gebrüllt: "Sagen Sie die Wahrheit!" Das war albern, da musste ich fast lachen. Ich war mir ja keiner Schuld bewusst.

Mit meinem Zucker lebe ich jetzt leichter. Es ist auch schön, dass man sich alles kaufen kann, wenn man genug Geld hat. Und hinfahren kann, wohin man will. Schlecht finde ich, dass man vielleicht nicht alles kaufen kann, wenn man keine Arbeit hat. So wie ich gerade.

Ich wünsche diesem neuen Deutschland alles Gute, damit meine Tochter Kim hier glücklich aufwachsen kann.

Aufgezeichnet von Bärbel Böttcher