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Fragen & Antworten Neues Wahlrecht: Verfassungskonform oder nicht?

Die von der Ampel durchgesetzte Wahlrechtsreform erzürnt Union und Linke gleichermaßen. Ihre letzte Hoffnung ist jetzt das Bundesverfassungsgericht.

Von Ulrich Steinkohl, dpa Aktualisiert: 23.04.2024, 10:01
Das neue Wahlrecht deckelt die Sitzzahl im Bundestag bei 630 Abgeordneten.
Das neue Wahlrecht deckelt die Sitzzahl im Bundestag bei 630 Abgeordneten. Michael Kappeler/dpa

Berlin/Karlsruhe - Das Bundestagswahlrecht ist ein Dauerthema in Karlsruhe. Erst Ende November 2023 hat das Bundesverfassungsgericht ein Urteil dazu gefällt - nun muss es sich schon wieder damit befassen. Damals stand die zu diesem Zeitpunkt schon überholte Wahlrechtsreform der großen Koalition aus dem Jahr 2020 auf dem Prüfstand. Nun geht es um die wesentlich weitergehende Reform der Ampel-Koalition aus dem vergangenen Jahr.

Warum wurde das Wahlrecht schon wieder geändert?

Die 2020 von der großen Koalition aus CDU/CSU und SPD verabschiedete Wahlrechtsreform hat schlicht nicht das bewirkt, was sie hätte bewirken sollen - eine Verkleinerung des Bundestags. Von vornherein von ihren Kritikern als Reförmchen verspottet, schaffte sie es lediglich, den Anstieg der Abgeordnetenzahl zu bremsen. Der Bundestag wuchs bei der Wahl 2021 von 709 auf 736 Abgeordnete - und ist damit weiterhin das größte frei gewählte Parlament weltweit.

Wie hat die neue Reform das Wahlrecht geändert?

Das im vergangenen Jahr mit den Stimmen von SPD, Grünen und FDP beschlossene neue Wahlrecht deckelt die Sitzzahl bei 630. Gewählt wird weiter mit Erst- und Zweitstimme. Es gibt aber keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr. Überhangmandate entstanden bisher, wenn eine Partei über die Erststimmen mehr Direktmandate im Bundestag gewann als ihr Sitze nach dem Zweitstimmenergebnis zustanden. Diese Überhangmandate durfte sie behalten. Die anderen Parteien erhielten dafür Ausgleichsmandate. Dieses System führte zu einer immer größeren Aufblähung des Bundestags. Für die Zahl der Sitze einer Partei im Parlament ist künftig allein ihr Zweitstimmenergebnis entscheidend.

Auch die Grundmandatsklausel fällt weg. Nach ihr zogen bisher Parteien, die unter der Fünf-Prozent-Hürde lagen, auch dann in der Stärke ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag ein, wenn sie mindestens drei Direktmandate holten.

Was stört die Kläger an diesen Regelungen?

Künftig wird jede Partei nur noch so viele Mandate erhalten, wie ihr nach ihrem Zweitstimmenergebnis zustehen - auch dann, wenn sie mehr Direktmandate geholt hat. Dann gehen die Wahlkreisgewinner mit dem schlechtesten Erststimmenergebnis leer aus. Dies wird vor allem von der CSU kritisiert, aber auch von der CDU.

Der Grund ist einfach: Bei der Bundestagswahl 2021 gewann die CSU 45 Direktmandate, kam aber nur auf ein bundesweites Zweitstimmenergebnis von 5,2 Prozent. Sie erhielt so 11 Überhangmandate, die sie nach dem neuen Wahlrecht nicht mehr bekäme. Weitere 12 Überhangmandate holte die CDU in Baden-Württemberg. Zusammen waren das 23 von insgesamt 34 Überhangmandaten, die wiederum 104 Ausgleichsmandate zur Folge hatten.

Laufen nur CDU und CSU gegen die Reform Sturm?

Nein. Der Wegfall der Grundmandatsklausel empört auch die Linke. Denn sie hat von dieser Regelung bislang besonders profitiert. Bei der Bundestagswahl 2021 kam sie zwar nur auf 4,9 Prozent der Zweitstimmen, aber Gregor Gysi (Berlin), Gesine Lötzsch (Berlin) und Sören Pellmann (Leipzig) gewannen jeweils ein Direktmandat - und die Linke zog mit 39 Abgeordneten in den Bundestag ein. Bei der Wahl 1994 holte die Linke-Vorgängerpartei PDS sogar nur 4,4 Prozent der Zweitstimmen. Doch dank vier in Berlin gewonnener Direktmandate entfielen auf sie 30 Sitze im Bundestag.

Für die CSU könnte es besonders bitter kommen. Würde sie bundesweit hochgerechnet unter die Fünf-Prozent-Marke rutschen, flöge sie nach dem neuen Wahlrecht aus dem Bundestag - auch wenn sie wieder die allermeisten Wahlkreise in Bayern direkt gewinnen würde.

Wer klagt eigentlich in Karlsruhe?

Verhandelt wird über zwei Normenkontrollverfahren (195 Mitglieder der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, bayerische Staatsregierung), drei Organstreitverfahren (CSU, Linke, Linke-Bundestagsfraktion) und zwei Verfassungsbeschwerdeverfahren (mehr als 4000 Privatpersonen, Bundestagsabgeordnete der Linken mit über 200 weiteren Privatpersonen).

Bei einem Normenkontrollverfahren wird geprüft, ob ein Gesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Das Organstreitverfahren ist eine Auseinandersetzung zwischen obersten Bundesorganen oder diesen gleichgestellten Beteiligten über ihre Rechte und Pflichten aus dem Grundgesetz. Antragsberechtigt sind auch einzelne Bundestagsabgeordnete und politische Parteien. Eine Verfassungsbeschwerde kann jedermann mit der Begründung erheben, durch die öffentliche Gewalt in einem Grundrecht oder bestimmten Artikeln des Grundgesetzes verletzt worden zu sein.

Welche ihrer Rechte sehen die Kläger verletzt?

Nach Angaben des Bundesverfassungsgerichts sehen sich die Antragsteller und Beschwerdeführer insbesondere in zwei Grundrechten verletzt: bei der Wahlrechtsgleichheit nach Artikel 38 Grundgesetz und beim Recht auf Chancengleichheit der Parteien nach Artikel 21 Grundgesetz.

Wann ist mit einem Urteil zu rechnen?

Das steht noch nicht fest. Allzu lang kann sich das Bundesverfassungsgericht aber nicht Zeit lassen. Die nächste Bundestag wird regulär im Herbst kommenden Jahres gewählt. Und die Venedig-Kommission des Europarats hat in einem Verhaltenskodex festgelegt, dass etwa ein Jahr vor einer Wahl deren Regeln feststehen sollen. Demnach müsste spätestens direkt nach der parlamentarischen Sommerpause ein Urteil verkündet werden.

Die Kommission, die Staaten in Verfassungsfragen einschließlich des Wahlrechts berät, hat sich das neue deutsche Wahlrecht im Juni vergangenen Jahres angeschaut. Sie kam zu dem Schluss, dass die Reform im Einklang mit den internationalen Wahlrechtsstandards stehe. Kritisch angemerkt wurde aber, dass eine breite Unterstützung über die Parteigrenzen hinweg fehle.

Wie könnte ein Urteil aussehen?

Das lässt sich überhaupt nicht vorhersagen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte keine verfassungsrechtlichen Bedenken und unterzeichnete das Gesetz daher. Das Bundespräsidialamt machte dabei deutlich, dass der Gesetzgeber nach dem Grundgesetz und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sehr frei in der Ausgestaltung des Wahlrechts sei. Das stimmt zwar. Trotzdem ist das Wahlrecht auch am höchsten deutschen Gericht ein umstrittenes Thema, wie das Urteil zur Reform der großen Koalition vom November vergangenen Jahres zeigte: Es fiel mit fünf zu drei Richterstimmen denkbar knapp aus.