Was Interpretationshilfen wirklich leisten
Bonn/dpa. - Wer einen Deutsch- oder Englisch-Leistungskurs gewählt hat, kennt das Problem: Die Menge an Pflichtlektüre nimmt in der Oberstufe rapide zu. Für das Zentralabitur müssen meist drei oder mehr Werke pro Fach gelesen werden und inhaltlich abrufbereit sein.
Das kostet Zeit. Dank fertiger Interpretationen aus Büchern oder dem Internet lässt sich der Aufwand jedoch begrenzen. In ihnen stehen die wichtigsten Fakten des Buches zusammengefasst. Sich ausschließlich auf diese Hilfsmittel zu verlassen, kann aber fatal sein.
Nur eine Lektürehilfe zu lesen und das Originalwerk zu Hause oder gar in der Buchhandlung zu lassen, reiche sicher nicht für Klausuren und die Mitarbeit im Unterricht aus, sagt Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbands in Bonn. «Damit bekommt man allenfalls einen Überblick für mittelmäßige Schulleistungen», sagt er. Denn ein literarisches Werk erschließe sich einem nur, wenn man es erst vollständig liest und anschließend Interpretationen studiert - oder das Buch sogar ein zweites Mal liest.
Dieses Herangehen empfiehlt auch Wilfried Wittstruck: «Wer halbwegs gute Noten haben möchte, kommt um die Originallektüre nicht herum», sagt der Germanistikprofessor von der Universität Vechta. Darüber hinaus findet er es jedoch sehr gut, wenn Schüler sich Lektürehilfen besorgen oder im Internet nach zusätzlichen Informationen zum Werk suchen. «Zum Wiederholen der wichtigsten Punkte vor der Klausur bieten sich solche Angebote super an.»
Wenn die Lektürehilfe alle bisherigen Unklarheiten beseitigt, könne man durchaus Zeit sparen und darauf verzichten, das Originalwerk ein zweites Mal zu lesen. Zudem seien Lektürehilfen eine hervorragende Möglichkeit, um für seine ersten Interpretationsansätze Sicherheit zu bekommen. Informationen aus dem Internet sollte man jedoch besonders kritisch lesen: «Im Netz kann jeder seine Ideen und Ansätze publik machen, ohne dass sie richtig sein müssen», warnt der Germanist. Da sei man bei den Interpretationshilfen aus dem Buchhandel eher auf der sicheren Seite.
«Im Netz bleibt vieles sehr oberflächlich», ergänzt Josef Kraus. Schüler, die ihr Wissen überwiegend aus dem Netz holen, seien am Ende den Original-Lesern deutlich unterlegen. Wer sich jedoch über das echte Werk hinaus mit einem Lektüreschlüssel oder einer anderweitigen Interpretationshilfe befasst, müsse das auf keinen Fall verbergen. «Das freut den Lehrer doch, wenn Schüler über die Lektüre eines Werkes hinaus solche Hilfen zurate ziehen», sagt Kraus. Lehrer wollten aber auch sehen, dass ein Schüler sich einen eigenen Eindruck verschafft und sich eigenständig Interpretationsansätze erdacht hat.
Davon gehen auch die Macher von Lektürehilfen aus: «Unsere Lektüreschlüssel sind so konzipiert, dass sie keinen Ersatz des Originals darstellen, sondern begleitend zur Lektüre dienen sollen», erklärt Peter Csajkas, Lektor des Reclam Verlages in Stuttgart.
Christian Grüning findet es dagegen «durchaus verständlich, wenn Schüler nach Möglichkeiten suchen, ihre Lesezeit zu reduzieren». Den zunächst auf der Hand liegenden Weg, ein dickes gegen ein dünnes Buch zu tauschen, stellt aber auch er infrage: «Man muss sich selbst fragen, ob die Lektürehilfe ausreichend weit für die Aufgabenstellung und die Behandlung des Werkes im Unterricht in die Tiefe geht», sagt der Experte für Zeit- und Lernmanagement aus Nördlingen (Bayern).
Wer mit Hilfe einer Lektürehilfe Zeit sparen möchte, habe aber durchaus Möglichkeiten. Grüning rät, zuerst die Zusammenfassungen aus einer Lektürehilfe zu lesen und sich anschließend an das Originalwerk zu machen. Durch den bereits vorhandenen Überblick über Handlung, Personen und Orte sei das Originalbuch oft besser und vor allem schneller verständlich.
Lektürehilfen gibt es nicht nur in Schriftform. Inzwischen können Schüler auch auf CDs zurückgreifen. Prof. Wilfried Wittstruck von der Universität in Vechta findet diese Hilfsmittel sinnvoll: «Jeder Mensch lernt anders, und für viele bietet sich das Hören mehr an als das Lesen.» Zudem könnte die Audio-Variante ein Anreiz sein, sich auf der Fahrt zur Schule oder zum Sport ohne zeitlichen Mehraufwand noch etwas über das Werk erzählen zu lassen.