Szenekneipe "Galerie" Szenekneipe "Galerie": Der Mann kehrt als Frau zurück
Köthen/MZ. - Schon 60 Mal hat Michaela Lindner sich so vor ihr Publikum gesetzt. Hat charmant aus dem sorgsam geschminkten Gesicht gelächelt, ihr volles schulterlanges Haar mit der Hand zurück gestrichen und die Beine über einander geschlagen. Hat ihr Buch aufgeschlagen und gelesen. Dieser Samstag aber ist keine beliebige Station in der Lesetour der Michaela Lindner, denn sie liest in Köthen, "Galerie" Dr.-Krause-Straße. Und sie liest nicht das, "was ich sonst immer lese", sondern vor allem und gleich am Anfang den Brief, den sie im Sommer 1998 den Quellendorfer Gemeinderäten geschrieben hat. Sommer 1998, da lag der große Showdown knapp ein Jahr zurück: Norbert Lindner, geachteter Bürgermeister von Quellendorf, hatte öffentlich gemacht, dass in seinem männlichen Körper die Seele einer Frau auf Befreiung wartete. Aus Norbert war Michaela Lindner geworden.
Einen zur Bürgermeisterin gewandelten Bürgermeister aber wollte die Mehrzahl der Gemeinderäte nicht haben, es folgte die Abwahl und Lindners "Flucht" nach Berlin. Das alles ist im Kreis Köthen bekannt. Interessant war - bei stürmischem Wetter und vor wenig zahlreichem Publikum - deshalb weniger, was Michaela Lindner aus ihrem acht Monate alten Buch las. Denn das gibt es in jeder Buchhandlung zu kaufen. Interessant war sie selbst und was sie sonst noch zu erzählen hatte. Die zwischen den Lesetexten gespielten Lieder drückten eine Entwicklung aus, es war ihre Entwicklung. "Wer nie verliert, kann niemals siegen", ließ sie Udo Jürgens aus den Lautsprechern schmettern. Ein anderes Lied war "Ich bin was ich bin", ein weiteres ist über Michaela Lindner selbst geschrieben worden. In Berlin und zur Zeit, soviel ist sicher, geht es Michaela Lindner gut. "Ich bin dabei", sagt sie, "die Frau Michaela Lindner erfolgreicher zu machen als es der Mann Norbert Lindner jemals gewesen ist." Aus ihr sprach ein Mensch, der aus beachtlicher Höhe in ein tiefes Tal zurück blickt, das er durchschritten hat. Und das Tal hatte mit der Flucht aus Quellendorf erst begonnen. Was folgte, war die Geschlechtsumwandlung - über sie las Lindner detailliert -, waren finanzielle Probleme und ein Selbstfindungsprozess, der viel eher als Geburtswehen eines neuen Lebens zu bezeichnen ist. Erste sexuelle Erfahrungen als Frau, Partnerschaften, 120 vergebliche Bewerbungsgespräche, der Wiedereinstieg in die Politik.
Heute ist Michaela PDS-Bezirksverordnete in Berlin-Kreuzberg, "da fragen die Leute nach meiner Meinung zur Stadtteilentwicklung, nicht so sehr nach Transidentität". Sie hat eine Ausbildung als Internationale Betriebswirtin abgeschlossen, studiert Psychologie an der Fern-Uni Hagen und jobbt an der Supermarktkasse - "wie viele Studentinnen eben". Ein eigenes Dienstleistungsunternehmen ist in Planung.
Aber was ist mit Köthen? "Verändert hat sich einiges in der Stadt, die Köthener jedoch nicht." Michaela Lindner bleibt kühl. Seit einem Dreivierteljahr versucht sie, in der Stadt einen offiziellen Ort für ihr gesamtes Bühnenprogramm zu finden - "da besteht kein Bedarf, hat man mir geschrieben". Bundesweit ist das Programm 60 Mal gelaufen, auch in Wolfen. Michaela Lindner steht gern im Licht der Öffentlichkeit, sie möchte Vorbild sein und zeigen, dass sie zu sich steht und was aus ihr geworden ist. Vor allem in Köthen, "wo ich nach wie vor seltsam angesehen werde". "Irgendwann", sinniert sie, "wird es soweit sein, dass ich auch wieder durch Quellendorf spazieren kann". Sie kichert: "Einmal würde ich da noch gern ins Freibad gehen." Dann reckt sie die Arme in die Höhe, wirft ihre schulterlangen Haare herum und die Nachdenklichkeit von sich ab: "Aber jetzt ist erst mal Party angesagt."
Michaela Lindner: "Ich bin, wer ich bin." Ein öffentliches Leben als Mann und als Frau. Eichborn-Verlag, Frankfurt/M.