Soziologie der Trauer Soziologie der Trauer: Warum weinen die Massen?
Hamburg/dpa. - Die Reaktionen auf den Tod des Nationaltorhüterssind gigantisch. Die kollektive Katharsis, die seelische «Reinigung»der Massen in diesen Tagen, wirft die Frage auf: Welche Ursache hatdiese große gesellschaftliche Trauerarbeit?
Die Kommunikationswissenschaftlerin Katrin Döveling, zurzeitProfessorin an der TU Dresden, sagt: «Medien schaffen es, eineVertrautheit aus der Distanz herzustellen. So bekommen Menschen eineVerbindung zu Prominenten, die sie privat gar nicht kennen.» DiesesPhänomen nenne die Medienpsychologie «parasoziale Beziehung».
Wenn Stars sterben, führt die von Medien geschaffene Intimitätzu echter Trauer. «Trauer will man teilen, und so kommt es zu einerkollektiven Vergemeinschaftung. Moderne Medien wie das Internet mitE-Mail oder sozialen Netzwerken machen einen schnelleren sozialenAustausch möglich und erweitern die Möglichkeiten, Gemeinschaft zuerfahren.» Da der Mensch ein soziales Wesen ist, will er inschwierigen Situationen und gerade auch bei Trauer wenigstens dieErleichterung spüren, dass er mit seinen Gefühlen nicht allein ist.
«Da Menschen durch die medienvermittelte Nähe das Gefühl haben,die Prominenten zu kennen, empfinden sie bei deren Tod einen Verlust.Außerdem sind sie mit der Tatsache konfrontiert, dass auch das eigeneLeben endlich ist», sagt die Soziologin Döveling.
Die Beispiele für medial verbreitete Massentrauer haben in denvergangenen Jahren neue Dimensionen erreicht, wie die PsychologinDöveling bestätigt, die genau solche Emotionen erforscht. Ob nach demTod von Prinzessin Diana 1997, bei Papst Johannes Paul II. 2005 oderMichael Jackson in diesem Jahr: Stets waren Tausende auf den Straßen,Millionen vor den Fernsehschirmen. Bewegung allerorten.
Diana, der Papst oder auch Jackson waren globale Symbolfiguren.Enke war dagegen scheinbar der sympathische junge Mann von nebenan.Sein Tod und auch die Konfrontation mit dem Tabu-Thema Depressionentrifft deshalb viele noch tiefer. Das Fußballmagazin «11 Freunde»philosophierte: «Die entsetzliche Nachricht vom Tode Robert Enkes hatviele aus ihrer naiven Beschäftigung mit dem Fußball gerissen.»
Doch vorsichtig fragt sich manch einer, wie viele der 35 000Teilnehmer des spontanen Trauermarsches am Mittwochabend wohl auf einDepressionsgeständnis von Enke - wenn es das denn gegeben hätte - mitübersteigertem Männlichkeitsgefühl, reagiert hätten. Man hat Macho-Stadion-Rufe im Ohr wie «Weichei» oder weit Härteres.
Sebastian Deisler, der vor ein paar Jahren wegen Depressionen ausdem Profifußball ausstieg, sagte kürzlich in einem «Zeit»-Interview,wie es ihm in der Kabine des FC Bayern München erging: «Einige habenmich hinter vorgehaltener Hand "die Deislerin" genannt.»
Wird das nun endlich Vergangenheit? Werden jetzt alle vernünftig?Man möchte es so gerne glauben. DFB-Präsident Theo Zwanziger ruftvorbildlich zum Bruch von Tabus auf. Wenn man Enke gerecht werdenwolle, «müssen wir dazu kommen, dass im Fußball jeder ohne Angstleben kann», sagte er der «Bild»-Zeitung. Enke habe große Angstgehabt, dass seine Depressionen bekanntwerde. «Unter einem ähnlichenDruck stehen beispielsweise auch homosexuelle Fußballer.»
Der offen schwule FC St. Pauli-Präsident Corny Littmann bleibttrotz der Ereignisse der letzten Tage skeptisch. «Die Bereitschaftist zwar da in den Vereinen, auch unter Journalisten, sehr sorgfältigmit diesen Themen umzugehen, aber es bleibt die nicht kalkulierbareSituation in einem Mannschaftsumfeld, es bleiben die nichtkalkulierbaren Reaktionen der gegnerischen Fans.»
Die große mediale Aufarbeitung und beeindruckende Trauer inDeutschland lässt die Frage offen: Hätte der stille Robert Enke, derkein «Titan» wie manch anderer Sportler war, eben kein lauter Typ undkein Top-Star, tatsächlich gewollt, dass sein Sarg im Stadionaufgebahrt wird und die Trauer um ihn zu einem solchen Ereignis wird?