Schiedsrichter Schiedsrichter: Sepp Blatter schweigt über Pannen-Pfiffe
Johannesburg/dpa. - Die Fußball-Welt ist wütend und entsetzt überdie skandalösen Schiedsrichter-Fehler bei der WM, doch an derallmächtigen FIFA und ihrem Präsidenten Joseph Blatter prallt jedeKritik ab: Auch am Tag nach den schlimmen Referee-Pannen in denAchtelfinals von Bloemfontein und Johannesburg mit «Torklau» undgegebenem Abseits-Treffer gingen die WM-Bosse auf Tauchstation stattsich der weltweit längst entbrannten Debatte über Video-Beweis undChip-Ball zu stellen. Das PR-Desaster war perfekt. «Es ist wie anallen Tagen, wir kommentieren die Entscheidungen der Schiedsrichternicht», sagte FIFA-Pressesprecher Nicolas Maingot am Montag.
Diskussionen über technische Hilfsmittel stehen während der WM inSüdafrika ohnehin auf dem FIFA-Index. Der Fair Play-Gedanke wird inzahlreichen FIFA-Kampagnen groß geschrieben, aber bei den zahlreichenFehlentscheidungen nicht beherzigt. Dabei fordern erboste Trainer,Spieler, Funktionäre und Fußball-Legenden wie Franz Beckenbauer undJohan Cruyff überfällige Reformen. Cruyff sprach sich für eineTorkamera, aber keine weiteren technischen Hilfsmittel aus. Sogar derbritische Regierungschef David Cameron mischte sich ein undunterstützt den Einsatz von Kamerabildern bei der Bewertung vonToren. «Ich denke, Technologien im Sport zu nutzen ist ein Vorteil»,sagte Cameron im kanadischen Toronto nach dem Gipfeltreffen der 20wichtigsten Volkswirtschaften (G20).
Das für gültig erklärte Abseitstor der Argentinier zur 1:0-Führung beim 3:1-Achtelfinalsieg gegen Mexiko flimmerte über alleStadionleinwände. Die Schiedsrichter wurden durch diesen Fauxpasöffentlich vorgeführt, aber die FIFA steuert weiter stumm aufSchlingerkurs. Einzige Maßnahme am Montag war eine Überprüfung derVideo-Einspielungen auf den Stadion-Bildschirmen. Dort dürfenstrittige Szenen nicht als Wiederholung für die Stadion-Besuchereingespielt werden. «Da ist ein Fehler passiert. Wir wollensicherstellen, dass dies nicht mehr passiert», kommentierte Maingotdie öffentlich gezeigte Zeitlupe, nicht aber den offensichtlichenPatzer des Referees.
Statt des allseits erwarteten und notwendigen Statements derFußball-Würdenträger musste Maingot im Kellerraum des Soccer CityStadiums als Prellbock für die schweigenden FIFA-Bosse herhalten.Hinter den Kulissen dürfte Blatter angesichts des PR-Pleiteausgerechnet bei seinem heiligen afrikanischen WM-Projekt toben. Voreine Kamera stellten sich der Schweizer oder sein Schiri-Kommissions-Chef Angel Maria Villar Llona aber nicht. Für alle Referee-Themenverwies Maingot auf den vorab angesetzten Tag der Offenen Tür imSchiri-Quartier nahe Pretoria am Dienstag. Diese Fragestunden sindallerdings eine Farce, da die Referees keine Kommentare zu eigenenLeistungen oder den Auftritten ihrer Kollegen abgeben dürfen.
Andere sprechen derweil Klartext. «Wir von der Schiedsrichterseitedes DFB haben ja zu dieser Frage schon mehrfach Stellung bezogen. Wirwürden den Chip im Ball bevorzugen. Mit diesem technischenHilfsmittel wären menschliche Fehler auszuschließen», sagte DFB-Lehrwart Eugen Strigel der Nachrichtenagentur dpa. Auch der ehemaligeBundesliga-Referee Markus Merk machte sich in Anlehnung an das Tennisfür ein «elektronisches Auge» als technisches Hilfsmittel stark. «ImEndeffekt möchte niemand solche klaren Fehlentscheidungen sehen. Dasist nicht mehr zeitgemäß», sagte Merk. Schalke-Coach Magath outetesich ebenfalls als Fan des Video-Beweises, hat aber wenig Hoffnung.«Ich fürchte, ich werde ein Umdenken der FIFA in dieser Angelegenheitnicht mehr erleben.»
Der Eindruck drängt sich auf, dass die FIFA jede Debatte währendder WM unterdrücken will. Doch die ist längst im Gange. «Das war einklares Tor. Das muss der Linienrichter sehen», sagte Beckenbauer kurznach dem nicht gegebenen England-Tor und prophezeite richtig: «Jetztwird es heiße Diskussionen geben.» Was durch befürchteteSicherheitsrisiken und Organisationsdefizite zum Glück ausblieb,haben nun die Schiedsrichter dem afrikanischen Premieren-Turnierbeschert: Verheerende Negativschlagzeilen.
Was in anderen Sportarten längst gut praktizierter Alltag ist,erscheint im konservativ geführten Fußball schwer umsetzbar. Obwohlzwei Dutzend Kameras alle WM-Spiele in Super-Slomo und 3-D in dieWohnzimmer der Welt übertragen, müssen sich die Schiedsrichter aufihre eigenen Augen verlassen. Selbst im ultrakonservativen Cricketist der Video-Beweis erlaubt.
Von den Gralshütern der Fußball-Regeln wurde jede moderneTechnologie ausgerechnet wenige Wochen vor der WM endgültig verbannt.«Das nicht anerkannte Tor für England ist die letzte Warnung fürFIFA-Präsident Sepp Blatter, der immer noch im 19. Jahrhundertsteckt», formulierte die polnische Zeitung «Rzeczpospolita» am Montagdie Meinung vieler WM-Fans.
Nach jahrelangem Testen wurde der von Blatter lange als Modell derZukunft gefeierte Chip-Ball vom International Football AssociationBoard (IFAB) für untauglich erklärt. Stattdessen soll auch mit Blickauf die WM 2014 das Projekt mit zwei weiteren Assistenten hinter denToren fortgeführt werden. Menschliche Fehler gehören zum Fußball,lautet die neue Sprachregelung. Viele Schiedsrichter, wie derdeutschen FIFA-Referee Knut Kircher finden das gut. «Die FIFA hat dasso entschieden. Wenn das wieder aufgerollt wird, ist das Blödsinn.»