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Schicksal einer Familie aus Halle Schicksal einer Familie aus Halle: Junge Mutter sucht Lichtblick

Von Ralf Böhme 20.12.2014, 14:26
Der kleine Bruder liegt im Wagen. Ihre Tochter Alia, 21 Monate alt, muss Madeleine Schmidt stets tragen. Es fehlt ein Wagen für zwei Kinder.
Der kleine Bruder liegt im Wagen. Ihre Tochter Alia, 21 Monate alt, muss Madeleine Schmidt stets tragen. Es fehlt ein Wagen für zwei Kinder. Günter Bauer Lizenz

Halle (Saale) - Als sie 17 Jahre alt war, verlor Madeleine Schmidt aus Halle ihre Mutter durch ein Verbrechen. Dieses Ereignis hob das Leben der jungen Frau aus den Angeln. Unverschuldet in Not geraten, heilte diese seelische Wunde nicht ab - mit Folgen bis heute, für sie und ihre beiden kleinen Kinder.

Geschwisterwagen wird benötigt

Was ihr aber jetzt am Nötigsten fehlt, ist etwas ganz Praktisches: ein Geschwisterwagen, der Platz für das Mädchen und den Jungen bietet. Sonst muss sie ein Kind stets auf dem Arm tragen. Oder es steht die Frage: Wer passt auf das eine Kind auf, wenn sie mit dem anderen im Kinderwagen die Wohnung verlässt? Mit dem Geschwisterwagen könnte sie den Nachwuchs - sechs und 21 Monate alt - gleichzeitig an die frische Luft bringen. Madeleine Schmidt spart. Doch der Geschwisterwagen kostet fast 1 000 Euro. Die kleine Familie lebt von 700 Euro im Monat.

Besuch beim Sozialamt

Seit kurzem erhält die junge Frau professionelle Unterstützung durch eine Sozialarbeiterin aus dem Schirm-Projekt. Gleich am ersten Tag ihres Kennenlernens war Antje Weiße mit Madeleine Schmidt beim Sozialamt. „Die Antwort war leider abschlägig.“ Nur einfache Kinderwagen würden in Notfällen finanziert, so die Vorschrift. Ausnahmen, hieß es, seien nicht vorgesehen. Wie eine Alleinstehende zwei Kinderwagen gleichzeitig steuern soll, darauf bleibt die Mitarbeiterin des Sozialamtes auch gegenüber der MZ die Antwort schuldig.

Armut hat viele Gesichter

Therapeutin Anna Manser, die das Schirm-Projekt leitet, sagt: „Armut hat heutzutage ganz viele Gesichter. Es ist nicht nur der Flaschensammler oder der Jugendliche, der bettelt.“ Auch die einkommensschwache Mutter, die dringend einen Geschwisterwagen braucht, gehört aus ihrer Sicht zu den Bedürftigen am Rand der Gesellschaft. Wenn hier am falschen Ende gespart und keine Lösung gefunden werde, bedeute das eine Ausgrenzung der kleinen Kinder. „Erst der Geschwisterwagen macht die Familie mobil, lässt sie wirklich am Leben teilhaben.“ Und das sei wichtig, würden doch gerade in den ersten Lebensjahren wichtige Weichen gestellt. Um Fehlentwicklungen zu vermeiden, sei es entscheidend, dass Kinder unter Kinder kommen, spielen und lernen. Vieles, was Madeleine Schmidt und ihre Kinder belastet, hängt mit einem einzigen Tag zusammen. Es ist der Tag, an dem ihre Mutter erschlagen wurde. Wie ein dunkler Schatten liegt das Familiendrama auf ihrem Leben. Anfangs dachte sie: „Hoffentlich sterbe auch ich, um diese Grausamkeit nicht länger ertragen zu müssen.“ Mehr als sechs Jahre sind seitdem vergangen. Inzwischen sind ihre Augen nicht mehr vom nächtelangen Weinen geschwollen.

Doch der Anschein täuscht. Nur wenig ist im Lot. Und es geht ihr seelisch immer noch nicht gut. Sichtliche Unruhe erfasst die 22-Jährige, wenn das Gespräch auf den gewaltsamen Tod der Mutter kommt. Der Täter - es war ihr Vater - habe im Affekt gehandelt. So steht es in Akten. Der Mann ist verurteilt, sitzt im Gefängnis. Aber hilft das über den Verlust hinweg?

Rückkehr in bürgerliches Leben fällt schwer

Mit so einem Erlebnis klar zu kommen, sagt Anna Manser vom Schirm-Projekt, übersteigt manchmal die Kraft. „Deshalb wollen wir Madeleine stark machen.“ Arbeitsfähig, wie man sich das landläufig vorstellt, ist sie noch lange nicht. So fällt es ihr schwer, sich zu konzentrieren. Was ist wichtig, was nebensächlich - die richtige Entscheidung gelinge ihr selten, sagt Madeleine selbst. Einmal so aus der Bahn geworfen, sagt Sozialarbeiterin Antje Weiße, ist die Rückkehr in die bürgerliche Normalität schwer. Immer wieder suche sie deshalb nach Anknüpfungspunkten. Neben den häuslichen Pflichten und der Sorge um die Kinder ist es vor allem der gute Realschulabschluss. Das einst angestrebte Freiwillige Soziale Jahr in der Altenpflege brachte Madeleine nach dem Tod der Mutter nicht zu Ende. Auch der Wunsch, Krankenschwester zu werden, blieb auf der Strecke. Neurologen, Internisten, Psychologen versuchten ihr in Krisen zu helfen. Medikamente. „Manchmal helfen sie, manchmal nicht.“ Alternative Therapien wären vielleicht noch eine Hoffnung. Doch wer soll dafür aufkommen?

Wer hilft?

Es ist eine Achterbahnfahrt der Gefühle, die die junge Frau prägt. Manchmal igelt sie sich regelrecht ein, zuweilen in einem Zimmer mit schwarzen Wänden. Zwei Mal glaubte sie, endlich die große Liebe gefunden zu haben. Die Männer verließen sie. Ihr blieben die Kinder. In stillen Momenten zweifele sie an sich und der Welt, sagt die Frau. Wenn es das Schirm-Projekt nicht gäbe, wo man ihr kostenlos Rat und Unterstützung gewährt, wüsste sie mitunter nicht weiter. Dort sei ihr auch die Idee gekommen, an Heiligabend in eine Kirche zu gehen - zum ersten Mal in ihrem Leben. Aber um mit den Kindern dorthin zu gelangen, braucht sie einen Geschwisterwagen, neu oder gebraucht und abgenutzt. Madeleine Schmidt: „Das ist völlig egal, aber wer hilft mir jetzt?“ (mz)

Für die Tochter ist kein Platz im Kinderwagen.
Für die Tochter ist kein Platz im Kinderwagen.
Günter Bauer Lizenz