Norwegen Norwegen: Abenteuer am Polarkreis

Mo i Rana/dpa. - Es ist eigenartig, welche Faszination die imaginäre Grenze des Polarkreises ausübt. Für viele Norwegen-Fahrer gehört das Überschreiten des unsichtbaren Zirkels bei 66 Grad und 30 Minuten nördlicher Breite zu ihren Schlüsselerlebnissen: Hier endet, so glauben viele, die Zivilisation - was natürlich nicht stimmt. Und hier beginnt das große Abenteuer - und da ist tatsächlich etwas dran.
Wer der Europastraße E6 folgt, erklimmt fast 1000 Kilometer nördlich von Oslo, kurz hinter Mo i Rana, das Saltfjell, eine 700 Meter hohe, weite Hochebene, die den Polarkreis auf ihrem Rücken trägt. Allenfalls vom Wind gekrümmtes Buschwerk und dürres Gras sprießen zwischen Steinen und Geröll, sonst wachsen nur noch Moose und Flechten. Der Blick schweift über eine karge, unwirtliche Ödnis, die in der Ferne vor schneebedeckten Gipfeln endet - so stellt man sich die arktischen Archipele vor, auf denen Polarfahrer strandeten.
Bereits die Urbevölkerung muss der mystischen Stimmung auf dem Saltfjell erlegen sein. Jahrtausende, bevor Geographen diesen Strich, der den Beginn von Polarnacht und Polartag markiert, mathematisch genau über die Landkarte zogen, richteten die Schamanen der samischen Rentiernomaden hier eine Kultstätte ein. Die drei mächtigen Opfersteine bei Stödi sind auch von der E6 aus nicht zu übersehen - felsige Monumente in einer konturlosen Welt.
Wer diesen Ort im geheimnisvollen Licht der Mitternachtsonne erlebt, kann sich der Magie des arktischen Grenzlands kaum entziehen. Im nahe gelegenen Polarkreiszentrum dagegen gilt das nur, so lange kein Andrang herrscht. Dann allerdings sollte man sich die Ausstellung samischer Kunst und die Multimediashow anschauen.
Heute gehört der größte Teil der Polarkreisregion zum insgesamt 2105 Quadratkilometer umfassenden Nationalpark Saltfjellet-Svartisen. Er ist ein Wanderparadies für zivilisationsmüde Entdeckertypen, die die Einsamkeit und den Umgang mit Karte und Kompass nicht scheuen. Tagelang folgen sie den Farbklecksen längs steiniger Pfade, und wer nicht auf das Zelt angewiesen sein will, leiht im Touristenbüro von Mo i Rana den Schlüssel zu Hütten, die unbewirtschaftet sind, aber in wunderbaren Lagen ein Dach über dem Kopf samt Kochgelegenheit bieten.
Gen Osten blinken die Gletscher. Der größte von ihnen, der von feinem Geröllstaub bedeckte Svartisen, wölbt sich über 370 Quadratkilometer bis zu den Fjorden der Küste. Leichter zugänglich ist das «schwarze Eis» jedoch vom Inland aus: Nördlich von Mo i Rana zweigt bei Røssvoll eine Straße ab, die nach etwa 25 Kilometern am Svartisvannet endet - von hier legt das Boot für die 20-minütige Überfahrt ab. Am anderen Ende des Sees sind noch drei Kilometer Weg zu bewältigen, ehe man am Ostrand des mächtigen Gletschers steht.
Inmitten einer rötlichen Felslandschaft glitzert der eisige Gletscherbruch, auf einem Schmelzwassersee dümpeln Eisberge. Wer Glück hat, erlebt ein faszinierendes Schauspiel: Mit donnerndem Krachen lösen sich mächtige Eisblöcke aus dem Gletscher, stürzen in den See zu seinen Füßen und stoßen eine Flutwelle an. Nicht nur vor dem Aufenthalt in Ufernähe wird aus gutem Grund gewarnt, sondern auch vor dem Klettern in harmlos glucksenden Bachläufen: Mit jedem Eisbruch verwandeln sie sich in gefährliche Röhren, durch die gewaltige Wassermengen schießen.
Gletscherbegehungen auf eigene Faust sollten Besucher ohnehin bleiben lassen. Sowohl hier wie auch für die Nachbar-Eismassive können in Mo i Rana Gletscherwanderungen gebucht werden: Kernige Burschen nehmen Expeditionen von bis zu 20 Teilnehmern ans Seil, lotsen sie durch das Labyrinth der Eisblöcke, helfen hinauf auf das glatt polierte Dach einer im Sonnenlicht gleißenden Welt und lassen Wagemutige am Seil in den eisigen Hauch blau schimmernder Spalten.
Man kann aber noch tiefer hinein in die Unterwelt: Die Gletscher haben Höhlen und Gänge in den Kalkstein getrieben - mehr als 200 Grotten sollen es in der gesamten Polarkreisregion sein. Zwei von ihnen liegen auf etwa halber Strecke zwischen Mo i Rana und dem Bootsanleger zum Svartisen. Zunächst die Grønligrotta für Anfänger: Eine knapp halbstündige Tour durch die elektrisch beleuchtete Höhle führt durch Labyrinthe, vorbei an einem Wasserfall, bizarren Tropfsteinformationen und einem gewaltigen Granitblock, den das Gletschereis tief ins Erdinnere verfrachtet hat.
Noch spannender ist die Setergrotta ein paar Kilometer weiter. Dort gibt es kein Licht, keine Treppenstufen, keine Geländer. Maximal zehn Erwachsene dürfen mit auf den zweistündigen Vorstoß in die Unterwelt. Ausgerüstet mit Overall, Stiefeln und Helm mit Batterieleuchte, wird über den Resakjelen, den «Kochtopf des Riesen» eingestiegen: ein 50 Meter breites und 15 Meter hohes Loch im Fels. Im Spagat folgt der Besucher im eigenen Lichtkegel den Kanten einer Schlucht, zwischen den Füßen der gähnend schwarze Riss im Fels, aus dessen Tiefe Wasserrauschen nach oben dringt. Durch schmale Schlitze wird in gewaltige Hallen geklettert, auf allen Vieren robbt man durch Schächte, so eng, dass der Fels einen von allen Seiten bedrängt. Klaustrophobie darf 2,5 Kilometer weit im Erdinneren niemand haben.
Den Tiefen dieser nordischen Unterwelt entronnen, tut ein Ausflug aufs Wasser gut. Auf den Flussläufen, die von Saltfjell und Svartisen in die Täler fließen, ist von geruhsam bis adrenalinfördernd so ziemlich alles zu haben, sei es im Kanu oder beim Rafting. Doch vielleicht genügt es ja auch, im geheimnisvollen Licht einer rot glühenden Mitternachtssonne an einsamen Ufern zu stehen und die Angel auszuwerfen? Ein friedlicher Abschluss der Abenteuer am Polarkreis.