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Norderney Norderney: Insel mit zwei Gesichtern

Von MARLENE KÖHLER 17.06.2010, 15:28

Norderney/MZ. - Heeey! ruft Wattführer Bernhard Onnen über den Deich, "heeey" kommt es vom oben radelnden Kumpel zurück. Der Inselgruß, an dem sich die Einheimischen erkennen. Man kann auch "Moin" sagen, und das den ganzen Tag, aber was ein echter Insulaner ist, - die Hälfte der 6 000 Einwohner darf sich so nennen -, der bevorzugt sein lang gezogenes "he".

Onnen stützt sich im Wattenmeer von Norderney Neptungleich auf seine Grabegabel mit vier Zinken und bereitet die Wattwanderer in spe auf die kommenden zwei Stunden vor. Barfuß geht's am besten, sagt er, aber viele wollen ihre Neuerwerbung, Gummistiefel in allen Farben und Mustern, gerne einer ersten Nagelprobe unterziehen.

60 Meter über dem Meer

In Sichtweite des 1874 eingeweihten Leuchtturms, dessen Leuchthöhe 60 Meter beträgt, in Nähe von Campingplatz und dem 1927 eröffneten ersten Dünengolfplatz Deutschlands startet die Tour mit dem staatlich geprüften Führer durchs Watt. Alleine sollte sich keiner hier rauswagen, das wäre nicht nur gefährlich, sondern auch schade, würde man doch die Geschichten verpassen, die die Handvoll Wattführer dem Monde abgelauscht haben und nun ihren Gästen erzählen.

Zunächst aber wird, beobachtet von Säbelschnäblern, Pfuhlschnepfen, Silber- und Lachmöwen gegraben, was das Schlick hält. Der Wattwurm interessiert die Wanderer, wer will, darf einen in die Hand nehmen. Die Freiwilligen schauen nach Minuten wenig fröhlich auf die gelben Spuren, die der Wurm hinterlassen hat: Pipi, sagt Onnen und schreitet voran, überquert Priele, findet Muscheln, Sandgarnelen und Schnecken, Austern und Quallen. Während er das reiche Tierleben des Meeresbodens erklärt, sinkt manch Gummistiefel immer tiefer in den Sand, ein maues Gefühl.

Viele Rad- und Wanderwege

Norderney ist mit 14 Kilometern Länge und etwa zwei Kilometern Breite die zweitgrößte der sieben ostfriesischen Inseln. Und die städtischste, sagt Herbert Visser, der Marketingleiter der Staatsbad Norderney GmbH. Wie alle anderen, ob Borkum, Juist, Baltrum, Langeoog, Spiekeroog oder Wangerooge, biete sie Sand, Dünen, Deiche, Seehunde, Möwen, doch nur noch Borkum habe den gleichen Vorteil wie Norderney: man kann mit dem eigenen Auto anreisen.

Wirklich nötig ist das nicht, denn per Rad, luftgefederter Bimmelbahn oder zu Fuß gelangt man überall hin. Über 80 Kilometer Rad- und Wanderwege führen zu den schönsten Plätzen, zu Aussichtsdünen, angesagten Restaurants wie "Weiße Düne" oder "Oase" in Nähe des breiten FKK-Strandes mit Strandsauna.

Welch Wohltat, wenn man im für Fahrzeuge jeder Art gesperrten Inselosten kilometerlang auf Moosboden wandert, durch mit Strandhafer bewachsene Dünen und beinahe unberührte Natur. Die Unesco hat dem Nationalpark Wattenmeer 2009 den Titel Weltnaturerbe verliehen. Kaum einem Menschen begegnet man bis zum malerisch verwitterten Bootswrack am Ostende, allenfalls ein paar Kaninchen, die sich zu zigtausenden niedergelassen haben. Keine hundert Meter entfernt rekeln sich Seehunde auf einer Sandbank und von gegenüber grüßt Baltrum.

Etwa 435 000 Übernachtungsgäste kommen jedes Jahr nach Norderney. Die meisten setzen mit der Fähre aus Norddeich-Mole über; eine fahrplanmäßige Schiffsverbindung gibt es seit 1872. Einige reisen per Flugzeug an, denn zu Füßen des Leuchtturms existiert ein Flugplatz mit einer 800 Meter langen Start- und Landebahn. 3,3 Millionen Übernachtungen werden jährlich registriert, damit hat Norderney die meisten Übernachtungen in Niedersachsen. Prominente zog die 1797 zum ersten deutschen Nordseebad erhobene Insel schon immer an. Heine und Alexander von Humboldt, Bismarck, Clara und Robert Schumann, Mitglieder der Königshäuser Hannover und Preußen urlaubten hier. Noch heute wird durch das Internationale Filmfestival Emden-Norderney eine überdurchschnittliche Promi-Dichte erzielt.

Rund um den Kurplatz hat sich mit Conversationshaus, Konzertmuschel, Badehaus und Kurtheater im Renaissancestil ein kulturelles Zentrum etabliert, in dem gut 1 000 Veranstaltungen im Jahr über die Bühnen gehen. "Wir haben in den letzten Jahren 100 Millionen Euro in die Infrastruktur investiert, davon 40 Millionen in die neue, acht Kilometer lange Promenade", sagt Marketingchef Visser. Sie beginnt am Fähranleger am West-Ende, führt vorbei an Restaurants, ein paar Geschäften und vielen Strandkörben am Weststrand bis zum Ende der Bebauung.

Im städtischen Zentrum mit seinen Einkaufsstraßen, Cafés und Restaurants zeugen 26 "Schaufenster" von den Veränderungen Norderneys. Das sind historische Fotografien vor alten Gebäuden, die den Vergleich mit der Realität ermöglichen. Meistens fällt er zugunsten der Neuzeit aus, nur bei dem hässlichen Vorbau, hinter dem das Kurtheater verschwindet, und beim "Haus der Insel" aus grauem Beton kommt man ins Grübeln über die Intensionen der Architekten. Die Debatten über die Bausünden der 70er Jahre kommen und gehen wie die Gezeiten, im Moment sind sie wieder in einer heißen Phase.

Doch das für acht Millionen Euro nach altem Vorbild wieder aufgebaute und erweiterte Conversationshaus ist ein Schmuckstück geworden. Schon ab 1841 traf man sich hier zum Tee, tauschte sich aus, wollte sehen und gesehen werden. Das funktioniert auch heute, wo eine Orangerie mit Café, eine Bibliothek und ein Lesesaal mit einem verblüffend umfangreichen Zeitungsangebot - auch die MZ ist dabei - zum Verweilen einladen. Die Tourist-Information hat hier geöffnet, an sechs Internetplätzen kann der Besucher mit seiner Kurkarte, der Norderney-Card, täglich 15 Minuten kostenlos ins Netz, und bei schlechtem Wetter spielt das Kurorchester bis zu dreimal am Tag im Großen Saal. Noch schöner ist es, wenn die 40 Warschauer Sinfoniker in der Konzertmuschel Platz nehmen und die Musikfreunde davor. Dann hört man die Klänge bis weit in das Städtchen, und auch in Deutschlands erstes torfbefeuertes Warmbadehaus, das heute wohl das größte Thalasso-Bad der Republik ist, weht ab und zu eine beschwingte Melodie.