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Medientrend Medientrend: Vor aller Augen

Von Steffen Könau 29.12.2006, 10:54

Halle/MZ. - Aber der Anfang ist lange her. Seit sechs Jahren schon schreibt Ilona Herrmann Tagebuch - nicht irgendwo und nicht heimlich unter der Bettdecke, sondern im Internet, unter den Augen der ganzen Welt. Und was am Anfang ein kleiner, privater Spaß war, mit dem die gelernte Wirtschaftskauffrau das Ende ihrer Ehe feierte, ist heute eine komplette Datenbank ihrer neuen Partnerschaft, in dem allein letztes Jahr mehr als 80 000 Neugierige stöberten.

Wie Ilona Hermann, die dem Netz ihren Schlaganfall ebenso anvertraute wie Softwareärger und Beziehungseuphorie, schreiben allein in Deutschland mehr als 500 000 Menschen ein Online-Tagebuch, neudeutsch Web-Log oder abgekürzt Blog genannt. Unter ihnen sind Teenager, die über ihre letzte Party schreiben, Mädchen, die Fotos ihres aktuellen Tokio-Hotel-Lieblings hochladen, Hausfrauen, die außer Kochen noch etwas anderes tun möchten, Handwerker, die aktuelle Politik nicht nur am Stammtisch kommentieren wollen. Einen Internetanschluss, einen Computer, ein passendes Blogging-Programm und ein möglichst ausgeprägtes Mitteilungsbedürfnis bei niedriger Schamgrenze - mehr braucht es nicht zur großen Literatour durch das eigene Leben.

Die Hallenserin Annette Bouvain etwa, die sich in ihrem Blog "Eiline" nennt, begann mit dem Schreiben, als sie sich vor vier Jahren anschickte, zu einem Praktikum nach Kirgistan aufzubrechen. Aus dem Plan, zurückbleibenden Freunden und Bekannten aus der Ferne etwas über die neue Heimat in der ehemaligen Sowjetrepublik zu erzählen, wurde dann zwar nicht so richtig etwas. Aber bei ihren nächsten Auslandsausflügen, die nach Laos, Afghanistan und China führten, griff die studierte Germanistin und Kunsthistorikerin regelmäßig in die Tasten. Sie erzählte von ihrer Begegnung mit einem laotischen Polizisten, der nebenbei an einer Schweine-Grill-Bude arbeitet und als Student in Halle-Neustadt mal versucht hatte, sich die laotische Spezialität Igel zu braten, weshalb er seitdem "Dr. Igel" genannt wird. Sie nahm ihre Leser mit zu einem Besuch bei den Buddhastatuen von Barnian in Afghanistan, die von den Taliban gesprengt wurden. Und sie zeigte im Bild, wie sich die Fußball-WM auf einer Großleinwand in einem ganz normalen halleschen Hinterhof anfühlte.

Was bei Annette "Eiline" Bouvain ganz und gar Hobby ist, gehört für Torsten Maue zum Beruf. Der gebürtige Staßfurter arbeitet als selbständiger Suchmaschinen-Optimierer in Magdeburg und nutzt sein Tagebuch, um über Dinge zu sinnieren, die ihm durch den Kopf schießen. Warum man nichts mehr von der Vogelgrippe hört, fragt Maue sich und seine Leser etwa, oder er freut sich, wenn bei einer kleinen Aktieninvestition mal schnelle hundert Prozent abfallen. Es gibt nichts, was nicht geht, weil alles möglich ist: Anfang Dezember zum Beispiel postete der Hobby-Brotbäcker zur Abwechslung mal ein Foto seines Mittagessens - selbst gemachter Nudelsalat mit Halberstädter Würstchen, "damit die Leser richtig Appetit bekommen".

Allerdings ist die begrenzte Intimität hier Mittel zum Zweck. Torsten Maue lässt die Leute in sein Leben, weil er über seine Internetseite Geschäfte anbahnt. Denn der 32-jährige Blogger ist stets bemüht, seine Fangemeinde mit Mehrwert zu locken: Maue, bekennender Renft-Fan und Liebhaber der Olsenbande-Filme, empfiehlt Schnäppchen und Versicherungsvergleiche, lukrative Tagesgeldkonten und günstige Übernachtungen in Mecklenburg.

So zielgerichtet betreiben das Blogging allerdings die wenigsten Netz-Autoren. "Meist schreibe ich bloß, wenn ich Lust und Zeit gleichzeitig habe", beschreibt Caroline Guhlen aus Leipzig, die vor zwei Jahren begonnen hat, für ein unbekanntes Publikum aufzuschreiben, was sie bewegt. Manchmal sind das Liebesgeschichten, von Traummännern, in die sich die 18-Jährige Hals über Kopf verknallt, was meist zu einer spürbar erhöhten Schreibfrequenz führt. Ist Caroline glücklich, trifft sie sich lieber mit dem Jungen statt zu schreiben. Dazu drängt es sie erst wieder, wenn die traurige Trennung mit all den unbeantworteten SMS und spontan gelöschten Digitalfotos erzählt werden muss.

Noch viel weiter gehen zwei Blogger, die sich dark_obsession und blonde_bound nennen und die Geschichte ihrer Leidenschaft füreinander seit mehr als zwei Jahren in einem gemeinsamen Online-Bericht festhalten. Dark ist 27, Blonde 25, ihre Liebe hat Höhepunkte und Krisen, die Emotionen schaukeln sich hoch und sie ebben auch mal ab, es gab Betrug und Tränen und alles geschah auf offener Bühne. Denn immer hat wenigstens einer von beiden davon erzählt: Von der Sehnsucht, wenn man sich ein paar Tage nicht sehen kann, von der Euphorie, sich dann endlich, endlich wieder zu begegnen, vom guten Sex und von schlechten Momenten und davon, wie es ist, "nach einem Jahr zu lesen, wie es vor einem Jahr mit uns war".

Andere so weit in sein Innerstes hineinzulassen, fiele Lothar Peppel nicht ein, obwohl er behauptet, dass nichts so hart sei wie sein Leben. Der 42-Jährige, der unter dem Namen "Textspeier" Alltag zu Texten im Telegrammstil verdichtet, ist ein Zyniker, der am liebsten auf eigene Kosten Witze reißt. Wenn Peppel in Form ist, produziert er galligen Spaß am Fließband und bleibt dabei immer knapp oberhalb der Schamgrenze. Ganz nebenbei aber entsteht im Trommelfeuer der guten Laune ein recht genaues Bild des Mannes hinter selbst gemachten Kalauern wie "Habe wieder diese Stimmen im Kopf! Arzt fragt, ob die Symptome ständig auftreten. Nein, sage ich, nur wenn mein MP3-Player an ist".

Blogs drehen sich im Kreise, denn Blogger schreiben nur von sich, auch wenn sie über die Tagesschau, das Wetter oder den Verkehrsunfall vor der Haustür berichten. Im Unterschied zu Buchautoren oder Journalisten sind sie ständig auf Lesereise, auch wenn sie die Wohnung gar nicht verlassen: Jeder Satz steht an der Tafel und die ganze Klasse aus 40 Millionen deutschen Internetnutzern darf seinen Senf dazu abgeben.

Das machen die Menschen gern - und manchmal machen sie ihren Lieblingsblogger damit sogar ein klein bisschen berühmt. Wie Anke Gröner, die am Anfang nur keine Lust mehr hatte "fünf Leuten nacheinander zu erzählen, wie doof ,Pearl Harbor' war" und ihre Filmkritiken deshalb einfach auf eine Webseite stellte. Vier Jahre später ist daraus nicht nur ein Archiv so ziemlich aller Filme geworden, die in deutschen Kinos starteten, sondern nebenbei auch ein Landkarte des Lebens der 36-Jährigen, die ihren Freund schnippisch den "Kerl" nennt und nebenher ein wenig in Kiefer Sutherland und den neuen Bond Daniel Craig verliebt ist.

In der Bloggerszene ist Anke Gröner jedenfalls ein Star, der eine feste Fangemeinde hat wie Oliver Gassner oder Alexander Endl. Gröner ist schon in Büchern besungen worden, Gassner lehrt Neulinge kreatives Schreiben und Endl hält in der wirklichen Welt Vorträge über das Internet und darüber, wie es die gesamte Gesellschaft morgen schon verändert haben wird.

Könnte sein. Könnte aber auch nicht sein. Bei Ilona Herrmann zumindest, die seit ein paar Jahren aus Baden-Württemberg bloggt, werden die großen Verwerfungen immer noch behandelt wie all die kleinen Schlaglöcher im Alltag, die Schnupfen heißen können, kaputte Waschmaschine oder Joggen im Dunkeln. Das Leben macht hier keine Sprünge. Sondern geht Schritt für Schritt weiter, Tag um Tag, Satz für Satz und Zeile um Zeile.