Matthias Lindner Matthias Lindner: Magische Zehn
Halle (Saale)/MZ. - Die Wunden sind so gut verheilt. Mit einem beherzten Hechtsprung war Matthias Lindner am 15. Juli beim internationalen Leichtathletik Meeting in Haldensleben nach 100 Metern über die Ziellinie geflogen. Der Sprinter vom SC Magdeburg strauchelte, schlug sich die Knie und Hüfte auf und wurde dennoch nur Dritter, vor ihm zwei Läufer aus Nigeria und Jamaika.
Aber der ungewöhnliche Kraftakt auf der Ziellinie hat sich gelohnt. 10,3 Sekunden wurden für ihn gestoppt. Damit ist Matthias Lindner seit jenem Julitag der schnellste Mensch in Sachsen-Anhalt. Die Freude darüber ist riesig, "weil bislang der Wurm drin steckte", blickt Lindner auf sein Sprint-Jahr zurück. Aber über ihm hängt scheinbar unerreichbar der deutsche Rekord über die 100 Meter. Den hält seit dem 22. September 1985 der Magdeburger Frank Emmelmann mit 10,06 Sekunden, gelaufen in Berlin. Weil der Deutsche Leichtathletikverband keine eindeutigen Informationen hat, ob alle Rekorde in der amtlichen Liste ohne Doping-Einsatz zustande kamen, erklärt er in einer Präambel vor den Zahlen sein Bedenken.
Jagt er einem Phantom-Rekord nach? Matthias Lindner denkt darüber nicht nach. Bis zu Usain Bolts 9,58 Sekunden-Weltrekord - 2009 gleichfalls in Berlin gelaufen - ist es sogar eine Ewigkeit vom Haldenslebener Zielsprung aus. Der Jamaikaner hätte im direkten Vergleich gut acht Meter auf 100 Meter herausgelaufen.
An Fabelwerten Boltscher Art beißen sich weiße Läufer seit Jahrzehnten erfolglos die Zähne aus. Der Weltrekord ist seit den sechziger Jahren fest in der Hand farbiger Läufer. Das letzte Mal gelang es dem Deutschen Armin Hary 1960, in diese Sprinter-Phalanx einzubrechen, als er beim Leichtathletik-Meeting im Zürcher Letzigrund mit handgestoppten 10,0 Sekunden Weltrekord lief.
Wenn Sonntagabend um 22.50 Uhr in London der Startschuss zum olympischen 100-Meter-Finale der Männer ertönt, werden voraussichtlich mehr als eine Milliarde Zuschauer vor den Fernsehgeräten sitzen. Das Duell der schnellsten Menschen der Welt zieht seit jehher magisch an. Es gibt für viele nichts Größeres als dieses Sprintduell. Für weniger als zehn Sekunden ist das Doping-Thema ganz weit weg, weil Betrachter der Faszination des Unmöglichen erliegt und danach giert, die schnellsten Menschen auf Erden zu sehen, und die bieten meist Unglaubliches.
Dabei klappt es gar nicht so oft mit dem 100 Meter-Weltrekord im Olympischen Finale. Usain Bolt schaffte das vor vier Jahren in Peking mit 9,69 Sekunden. Doch kaum ist der globale Freudentaumel nach solchen Rekorden vorbei, drängt die Urfrage wieder nach vorn: Kann der Mensch wirklich ohne Hilfsmittel so schnell rennen? Alle Olympiasieger und Weltrekordler haben beteuert, dies ginge bei entsprechendem Training. Nicht wenige aber, wie Ben Johnson oder Justin Gatlin etwa, hatten auf chemische Hilfe zurückgegriffen.
Usain Bolt wird Sonntagabend die fragenden Blicke ertragen. Kurz vor den Spielen hat der Jamaikaner in einem Interview angedeutet, das der sprintende Mensch nun wohl langsam das Ende der Fahnenstange erreichen wird. Sehr viel schneller könne der Mensch nicht laufen, dafür habe ihn die Natur nicht geschaffen. Bei seinem Weltrekord von 9,58 Sekunden legte Usain Bolt in jeder Sekunde 10,44 Meter zurück und schaffte einen Schnitt von 37,58 km / h. Mittendrin wurde als Spitzengeschwindigkeit 44,72 km / h gemessen - das überfordert die meisten Hobbyradler auf ebener Strecke.
Bis auf etwa 40 Meter steigt das Tempo im 100-Meter-Sprint an. Den Rest ihrer Kraft verbrauchen die Supersprinter - Bolt benötigt 40 Schritte bis zum Ziel - damit, das Tempo möglichst nicht abfallen zu lassen. Das hängt u.a. damit zusammen, dass die enormen Energiemengen, die die Muskulatur in Bruchteilen von Sekunden benötigt, nur sehr begrenzt - die Rede ist von weniger als acht Sekunden - auf diesem hohen Niveau lieferbar sind.
Jan Goldmann von der Deutschen Sporthochschule in Köln würde sich nicht auf Grenzen beim 100-Meter-Sprint festlegen. Der Sportwissenschaftler, der u.a. mit der deutschen Sprintnationalmannschaft arbeitet, glaubt, dass die Trainingsmethodik noch lange nicht ausgereift ist und "wir immer noch nicht alles wissen über viele Feinheiten der biomechanischen und biochemischen Abläufe" im Hochleistungskörper. "Muskeln und Sehnen sind der Motor, das Skelett das Getriebe. Das optimale Verhältnis bringt den Rekord - aber dieses ist bei jedem Athleten anders." Goldmann glaubt an "viele feine Stellschrauben", mit deren Hilfe es möglich sein sollte, Rekorde weiter in die Höhe zu treiben. Usain Bolt gibt sich noch ein paar Zehntel nach unten und würde am liebsten natürlich als letzter Weltrekordler in die Weltgeschichte des Sprints eingehen. Und falls das nicht klappen sollte, könnte er darauf hoffen, dass er - allerdings ohne eigenes Zutun - einen ganz anderen Rekord knackt, den Weltrekord mit der längsten Lebensdauer. Zwanzig Jahre hielten die 10,2 Sekunden von Jesse Owens (USA) aus dem Jahr 1936.
Dorthin möchte der derzeit schnellste Mensch Sachsen-Anhalts noch kommen. Matthias Lindner trainiert auch Samstag, so wie an jedem Tag der Woche. Sprints über 80, 100 und 120 Meter stehen am Samstag auf dem Plan, zwei Mal das Ganze, fast mit vollem Tempo. Das klingt wenig. Wie sieht Bolts Programm aus? Lindner zuckt mit den Schultern. Das sei die richtige Dosis für ihn. Er müsse mehr Krafttraining machen, "weil ich nicht so ein muskelbepackter Mensch bin", sagt der 25-Jährige, der Sprint trainiert, seit er 16 geworden ist, davor war er Mehrkämpfer.
Vier Mann stark ist derzeit seine Magdeburger Trainingsgruppe. Dieses Wochenende fehlen zwei, weil sie in London in der deutschen 4x400 Meter Staffel laufen werden. Als sie Mitte der Woche in den Olympia-Flieger stiegen, erreichte Lindner die Nachricht, dass er in den B-Kader der Sprintnationalmannschaft aufgenommen wird. Neben der Ehre gibt es nun bald auch mehr Fördergeld.
So schindet er sich weiter, Tag für Tag in der Magdeburger MDCC-Arena, denn nach B folgt A, dann ist er ganz oben in der Hierachie der deutschen Sprinter. Die haben neuen Mut geschöpft. Der Wattenscheider Julian Reuss lief dieser Tage 10,09 Sekunden. So dicht war seit 27 Jahren noch nie einer am deutschen Methusalem-Rekord von Emmelmann dran. Das beflügle auf wundersame Weise, Usain Bolt nicht, "das ist eine andere Welt". Dort werde er niemals hinkommen, sagt der Magdeburger.
Was ihn dennoch treibe? Der immer wieder neue Traum vom Sieg. Erster sein, sich und anderen beweisen, dass man etwas kann, was nur ganz wenige können. "Das geht auch ohne Rekorde". Ob er in diesem Sommer noch einen Wettkampf bestreitet, ist ungewiss. Totsicher ist, was er Sonntagabend macht: Usain Bolt gucken.