Lothar Matthäus Lothar Matthäus:
Johannesburg/MZ. - David Silva isst am Nebentisch mit seiner Familie zu Mittag. Irgendwo schwirrt der alte Trainerveteran Bora Milutinovic rum, und erzählt jedem, der ihn anspricht, dass er über alles redet, außer über Fußball. Ganz hinten in der Sofaecke brüllt jemand, „What? Feif Siro for Bordugal? Ingredibbl!“ Das kann nur Lothar Matthäus sein. Er hat sich in einer geräumigen Sitzgruppe eingenistet, in der er Journalisten empfängt, alte Bekannte umarmt und mit seinen zwei Handys simultan hantiert. Er ist wie immer der bestgebräunteste Mann im Raum. Er hat eine ausgeblichene Jeans mit künstlich ausgefransten Löchern an, wie sie Axel-Rose-Fans in der 90er Jahren trugen. Lothar Matthäus darf das noch immer tragen.
Herr Matthäus, wer wenn nicht Sie könnte uns sagen, wie man Weltmeister wird.
Wenn Deutschland die nächsten fünf Spiele alle gewinnt, dann sollte es klappen.
Klingt gar nicht mal so schwer.
Das Schwierigste ist, die Vorrunde zu überstehen. Dann fängt alles wieder bei null an. Deutschland hat eine Mannschaft, die sich im Gegensatz zu vielen anderen Teams bislang hervorragend präsentiert hat. Ich bekomme hier mit, dass die Deutschen weltweit noch nie so sehr für ihren schönen Fußball geschätzt wurden. Selbst von unseren Erzfeinden aus Holland habe ich hier viel Positives gehört.
Was ist denn dann gegen Serbien schief gegangen.
Mit Lahm auf der rechten Seite ist die Mannschaft natürlich auch ein bisschen berechenbarer. Das war eine taktische Meisterleistung von Trainer Antic, weil er sein System geändert hat. Er hat einen Stürmer weggelassen, um im Mittelfeld Gleichzahl zu schaffen. Dann hat er einen Abfangjäger für Lahm abgestellt und die starken Offensivspieler gegen Badstuber gestellt. So ist auch das Tor gefallen, weil Zigic, der größte Spieler auf dem Platz, sich immer nach hinten fallen ließ. Die Flanke ist dann immer auf den zweiten Pfosten gekommen. Und wer war hinten?
Philipp Lahm.
Der kleinste Spieler auf dem Platz. Das habe ich im deutschen Fernsehen aber so noch nicht gehört.
Das wissen bislang nur die Zuschauen von Al Jazeera?
Die wissen das jedenfalls.
Ist es nicht absurd, dass der deutsche Rekordnationalspieler die WM nicht bei ARD oder ZDF moderiert?
Ich bin froh, dass ich bei Al Jazeera bin. Da habe ich bei jeder Sendung 80 bis 100 Millionen Zuschauer.
Haben sie ihre Zuschauer auch darüber unterrichtet, dass es 1990, beim deutschen WM-Sieg mit dem Kapitän Matthäus, auch schlechtere Spiele gab?
Ich kann mich an keines erinnern.
Nach dem Viertelfinale gegen die Tschechoslowakei war Franz Beckenbauer mächtig sauer.
Das stimmt, da sind ein paar Eiswürfel durch die Gegend geflogen. Trotzdem haben wir da 70 Minuten lang hervorragend gespielt. Franz Beckenbauer war sauer, weil wir dem Gegner ermöglicht haben in den letzten 20 Minuten in Unterzahl noch den Ausgleich zu erzielen.
Was ist mit dem Endspiel?
Da haben wir vielleicht keinen so attraktiven Fußball gespielt. Aber ansonsten haben wir bei der WM schon mächtig Eindruck hinterlassen. Wir hatten natürlich auch keinen Auftaktgegner wie Australien. Wir hatten es gleich mit einer Fußballmacht wie Jugoslawien zu tun.
Merkt man als Spieler gleich im Eröffnungsspiel, ob das etwas werden?
1990 war das jedenfalls der Schlüssel zum späteren Erfolg. Ich glaube, das war eines meiner besten Länderspiele mit einem meiner schönsten Tore. Deswegen ist diese WM ja auch mit meinem Namen verbunden. In Deutschland vielleicht noch weniger als im Ausland.
Wieso ist das eigentlich so?
Der Deutsche ist mittlerweile so ausgestattet, dass er die Großtaten seiner sogenannten Idole vergisst. Er vergisst Boris Beckers Wimbledon Sieg, die Erfolge von Steffi Graf oder Schumacher. In anderen Ländern liebt man seine Idole. Wenn man sieht, was mit mir im Jahr 1990 passiert ist - WM-Titel, Europas Fußballer des Jahren, Weltfußballer des Jahres, Weltsportler des Jahres -dann vergisst man in Deutschland doch sehr, sehr schnell. Man will es vergessen, weil man es jemandem nicht gönnt, der vielleicht auch polarisiert. Meine Meinung ist nicht immer richtig, aber zumindest ehrlich.
Hat man es im deutschen Fußballgeschäft besonders schwer, wenn man immer ehrlich ist?
Bei Al Jazeera mag man gerade diese Ehrlichkeit. Und ich bin auch nicht gegen einen Badstuber, wenn ich sage, die deutsche Mannschaft hat auf der linken Abwehrseite ein Problem.
Das Phänomen der vergessenen Idole beschränkt sich nicht nur auf Sie. Niemand aus der Startaufstellung vom Finale 1990 hat heute eine verantwortungsvolle Position im deutschen Fußball – außer Rudi Völler vielleicht. Was ist da schief gegangen?
Mich interessiert das ja auch, woran das liegen kann. Nur meine Nase oder mein Privatleben kann es ja nicht sein. Wenn ich als Trainer einen Spieler bekommen würde, der wie ich viermal verheiratet ist, aber jede Saison 30 Tore garantiert, da nehme ich den doch. Deshalb habe ich mir das mal herausgesucht. Mein Punktedurchschnitt liegt bei knapp zwei Punkten pro Spiel. Und ich hatte es ja wirklich nicht nur mit Topteams zu tun. Von dieser Seite her, kann ich mir eigentlich nichts vorwerfen. Ich habe das Gefühl, dass Funktionäre in Deutschland schnell Angst bekommen, im Schatten zu stehen. Der große Name, der früher geholfen hat, der schadet jetzt.
Die Weltmeister von `74 und Europameister von `96 sind trotzdem in Amt und Würden.
Das sind eben diese alten Verbindungen. Der Paul Breitner zum Beispiel war gar nicht mehr im Fußball-Business drin. Und dann hat er eben durch alten Freund Uli Hoeneß dort wieder Anschluss gefunden. Das gleiche gilt für 1996: Sammer, Klinsmann, Bierhoff – eine Connection.
Wieso haben Matthäus, Buchwald, Brehme nie eine Connection gebildet?
Das hat sich halt nie ergeben. Vielleicht war das ein Moment, in dem die Positionen schon besetzt waren mit einer anderen Generation. Und danach ist diese Generation übersprungen worden. Aber das ist in Ordnung, ich akzeptiere das auch.
Sie haben für einen Mittelfeldspieler unfassbar viele Tore geschossen. Akzeptieren Sie auch, dass sich die Leute trotzdem zuerst an einen Elfmeter erinnern, den Sie verschossen haben, und an einen, zu dem Sie erst gar nicht angetreten sind?
Erst einmal muss ich sagen, dass ich mich nie vor der Verantwortung gedrückt habe. Ich bin auch immer nach Niederlagen zu den Journalisten gegangen und bin nicht durch den Hinterausgang geflüchtet. Da gibt es ein ganz berühmtes Beispiel - der hat blonde Haare. Egoist war ich auch nie, das gab es auch andere Beispiele.
Auch blonde Haare?
Das haben Sie gesagt. Wenn ich Egoist gewesen wäre, dann hätte ich 1990 den Elfmeter geschossen.
Die Geschichte ist ja bekannt.
Schuh kaputt, Schuhwechsel in der Halbzeit. Mit einem neuen Schuh geht man ja auch nicht gleich zum Opernball. Ich habe die Verantwortung weitergegeben, weil ich den Erfolg der Mannschaft nicht gefährden wollte. Aber man will in Deutschland eben immer etwas schlechten darin finden.
Stimmt es, dass Maradona Ihnen die Schuhe geschnürt hat, die im Finale kaputt gingen?
Maradona hat die Schuhe zwei Jahre vorher bei Abschiedsspiel von Michel Platini angehabt, weil er seine vergessen hatte. Ich hatte zwei Paar dabei. Maradona hat damals die lockerere Schnürung der Südamerikaner aufgezogen. Ich habe das dann einfach gelassen.
Ist es normal, dass man als Profi zwei Jahre lang denselben Schuh anhat?
Acht Jahre lang habe ich mit demselben Schuh gespielt. Das war der Spielschuh, nicht der Trainingsschuh. Dieser Schuh, der mir im WM-Finale kaputt gegangen ist, hat vorher 70 Länderspiele lang gehalten.
Das ist ja interessant.
Es ist vieles interessant in meinem Leben.
Kein Mensch hat so viele WM-Spiele gemacht wie Sie. Da würde mich noch interessieren, wie sich diese Veranstaltung für die Spieler verändert hat. Die deutsche Mannschaft lebt heute in einem Hochsicherheitstrakt.
Wir waren 82, 86 und 90 auch schon abgeriegelt. Glauben Sie bloß nicht, wir wären da abends auf ein Bierchen um die Häuser gezogen. Das war genau so professionell wie jetzt. Wir hatten unsere Trainingseinheiten, unsere Meetings. Was wir noch nicht hatten, war ein Privatkino, Poolbillard und Flipper. Heute wird der Mannschaft viel mehr im Hotel geboten als damals.
Sie sind 1990 mit ihrem Peugeot Cabrio an den Comer See gefahren, um sich ein wenig die Zeit zu vertreiben.
In Italien gab es eine sehr gute Balance zwischen Konzentration und Ablenkung. Franz Beckenbauer hat auch dazu gelernt, was er 1986 vielleicht nicht ganz so richtig gemacht hat. Ich hatte ja damals ein Heimspiel, weil ich bei Inter Mailand gespielt habe. Mein Haus war nur zehn Kilometer vom Mannschaftsquartier entfernt. Wir hatten unsere Freiheiten und jeder konnte in dieser Zeit machen, was er wollte. In Italien gibt es kleine Straßen, deshalb übrigens das kleine Auto.
Heute wäre das kaum noch möglich, weil die Nationalmannschaft wie Popstars verehrt wird.
Ich glaube wir hatten auch ein gutes Image. Aber damals konnte man das natürlich medial noch nicht so transportieren. Früher hat es ja noch Grenzen in Europa gegeben. Da gab es keine Telefone.
Von wie viel früher sprechen Sie den jetzt?
Keine Handys meine ich natürlich. Die Medienwelt hat sich am meisten verändert, und dadurch natürlich auch der Status eines Fußballspielers. Aber was soll da erst Uwe Seeler sagen? Was soll Gerd Müller sagen? Die haben auch nicht am Brandenburger Tor Schlagzeug spielen dürfen. Wir müssen einfach akzeptieren, dass wir damals nicht die Vermarktungsmöglichkeiten hatten wie die Spieler heute. Und ich gönne es ihnen.
Dann gönnen Sie ihnen natürlich auch einen Sieg gegen Ghana.
Selbstverständlich.
Wen würden Sie für Klose in den Sturm stellen?
Cacau hat eine großartige Rückrunde gespielt. Sonst würde meine Aufstellung aber ein bisschen anders aussehen. Ich würde mit Philipp Lahm ein Gespräch führen und ihn auf links stellen. Badstuber wirkt immer, als stünde an der Mittellinie eine rote Ampel – bis hierher und nicht weiter. Er ist ein hervorragender Innenverteidiger, aber leider keine Linksverteidiger. Auf rechts gibt es mehr Möglichkeiten. Wahrscheinlich würde ich Mertesacker und Friedrich im Zentrum lassen und rechts Boateng bringen.
Wo sieht man den Fußballexperten Matthäus in der nächsten Saison?
Lassen Sie sich mal überraschen.
Vielleicht ein kleiner Tipp?
Auf der Bank.
Aufgezeichnet von Boris Herrmann