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Immer Schillers Nase nach

Von Christian Eger 17.03.2005, 19:14

Leipzig/MZ. - Wie eröffnet man eine Buchmesse? Im Plauder- oder im Paukenton? Mit Witz und Charme oder mit wuchtiger Würde? Wohl jeweils in jener Fasson, in der sich die Veranstalter ihr Ideal-Publikum erträumen: gut gerüstet oder schwer gerädert. Die Leipziger hatten sich für Letzteres entschieden, als sie am Donnerstagabend ins Gewandhaus luden.

Überall ist Sachsen

Wäre da nicht Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee gewesen, der rhetorisch rasant den Einstein-Sommersitz Caputh ("in der Nähe von Leipzig") und Schillers Ode "An die Freude" ("ist hier entstanden") der eigenen Stadt einverleibte. Hätte Gewandhauskapellmeister Herbert Blomstedt nicht immerhin ein vergnügt zackiges Beethoven-Dirigat geboten. Und hätte sich Slavenka Drakulic, geehrt mit dem Buchpreis zur Europäischen Verständigung, nicht entschlossen, ihre Rede auf Kroatisch und im ICE-Tempo zu halten - ja dann wäre der ohnehin längliche Abend unerträglich lang geworden. Zweieinhalb Stunden brauchte, was in einer Stunde erledigt gewesen wäre.

Dabei muss man muss nicht beklagen, dass offizielle Reden nicht zuallererst auf einen Sinn-, sondern den Applaus-Punkt hin verfasst werden. Aber wenn der Reden-Generator nur noch unter der einen Maßgabe abschnurrt, dass da möglichst oft die Stichwörter "Buch", "Kultur" und "Europa" zu fallen haben, sollte man das Publikum doch besser unbehelligt lassen.

Weder Dieter Schormann, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, noch Georg Milbradt, Ministerpräsident in Sachsen, gelang es, mehr als nur Wortteppiche zu legen; sogar der ehemalige EU-Bosnienbeauftragte Hans Koschnick - sonst stets für eine Überraschung gut - enttäuschte. Man ahnte es wohl. Nicht anders ist der Entschluss zu verstehen, als ersten Programm-Punkt Bachs Toccata und Fuge d-Moll solcherart in den Saal donnern zu lassen, dass man den eigenen Sessel bereits als Schleudersitz wähnte. Es sollte nichts nützen. Nach vierzig Minuten schliefen die ersten Gäste; tiefe Rachen schalteten auf Durchzug.

Slavenka Drakulic, die den mit 10 000 Euro dotierten Preis für ihr Buch "Keiner war dabei - Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht" erhielt, reflektierte in ihrer Rede ihr ureigenes Verhältnis zu Deutschland. Einem Land, das in Kroatien nach 1945 so entschlossen als Hort des Bösen verachtet wurde, wie es mit dem Eintreffen des ersten westdeutschen Urlaubers als Wohlstands-Insel verklärt werden sollte. Karl May war die erste deutsche Drakulic-Lektüre, Karl Jaspers die nachhaltige. Bei dem Philosophen holte sich die 55-Jährige das begriffliche Besteck, um Schuld im Blick auf Verantwortung zu individualisieren.

Die Preisträgerrede also war die Kür, der Festakt die Pflicht; so kann es nicht bleiben. Gelingt es nicht, das Ganze um eine Stunde kürzer, anregender und mehr auf den Preis zugeschnitten zu präsentieren, sollte man es sein lassen. Was schade wäre in Zeiten des Sparens: Der Empfang im Anschluss ist inzwischen der größte Umtrunk der Messe. Dass diese gewachsen ist, war gestern auf Schritt und Tritt zu spüren; neue Hallen werden bespielt. Wer zum Beispiel vom Eingang aus zum Aufbau Verlag in der Halle 5 spazieren will, muss zehn Minuten einrechnen. Allein die Entzerrung war notwendig: Bereits am Morgen schoben sich die Besucherströme in solcher Dichte auf das Gelände, dass dieser Andrang in den Grenzen von 2004 unerträglich gewesen wäre.

Zug nach Nirgendwo

Weil diese Saison keinen tatsächlichen Bestseller zu bieten hat, schlägt die Stunde der Gedenkanlässe: Der 60. Jahrestag des Kriegsendes setzt Aufmerksamkeitsfähnchen allerorten und auch Schiller ist aus Anlass seines 200. Todestages bestens präsentiert. Ansonsten laufen einem sehr oft zwei Autoren über den Weg: PDS-Chef Lothar Bisky, der seine Autobiografie "So viele Träume" (Rowohlt Berlin) vertreibt, und der alte Schlager-Zopf Christian Anders ("Es geht ein Zug nach Nirgendwo"), der sogar mit einem eigenen Stand vertreten ist.

Auch Anders wirbt für sein Lebensbuch ("Über Nacht ein Star"): Der Messezulauf wird es ihm leicht machen. Wolfgang Tiefensee erklärte im Gewandhaus, dass er langfristig das Ziel habe, 500 000 statt wie bislang 100 000 Besucher als Messe-Norm zu etablieren, so viele Gäste also wie Leipzig Bürger zählt. Wer den gestrigen Messe-Auflauf erlebt hat, ist unentschieden, ob er sich das tatsächlich wünschen soll.