Fußball-Nachwuchs Fußball-Nachwuchs: Die Augen des FC Bayern München
Halle (Saale)/MZ. - "Hallo, hier ist der FC Bayern München. Herr Fuß? Wir hätten Sie gern als Nachwuchsspieler-Beobachter für die neuen Bundesländer. Hätten Sie Lust auf den Job?" In etwa so schallte es aus der Telefonhörer-Muschel. Hans-Jürgen Fuß grinste in sich hinein. Er konnte die Frage des Unbekannten gar nicht ernst nehmen. "Ich dachte, ein Nachbar macht sich mit mir einen gewaltigen Spaß." Also wollte er gleich wieder auflegen. Doch der Anrufer, der im Sommer 2008 inständig beteuerte, er sei tatsächlich vom größten deutschen Fußball-Klub, meinte dieses Angebot wirklich ernst - wie sich herausstellte. Fuß war völlig perplex, erbat sich Bedenkzeit und grübelte. Warum ausgerechnet ich?
Die Sache klärte sich auf. Der Landesfußball-Verband hatte seinen langjährigen Lehr- und Ausbildungsreferenten, den Mann mit Trainer-B-Lizenz und Betreuer für die Stützpunkte in Halle, Sandersdorf, Dessau und Wittenberg, auf eine Anfrage aus München empfohlen. Niemand kenne sich im Nachwuchsfußball der Region besser aus. Und weil sie bei den Bayern damals keinen sogenannten Scout im Osten Deutschlands hatten, sondern nur vier im übrigen Bundesgebiet, kam der Experte aus Zschornewitz wie gerufen.
Sechs Monate Schweigen
Oder doch nicht? Fuß sagte zwar zu, hörte hinterher aber sechs Monate lang nichts aus der Zentrale an der Säbener Straße. War der Anruf doch nur ein Scherz? Also fragte er vorsichtig nach. Schließlich lag ihm inzwischen ein weiteres Angebot vor. "Dann ging alles ganz schnell. Im Büro von Wolfgang Dremmler, dem damaligen Chef-Scout des FCB, unterschrieb ich im Februar 2009 meinen Vertrag. Ganze 20 Minuten hat es gedauert", erinnert sich Fuß. Sein Auftrag: Die Suche nach dem Rohdiamanten, einem mit Talent und Fleiß gesegneten Jugendlichen, der das außergewöhnliche Können besitzt, um im elitären Bayern-Internat einen Platz zu finden.
Dafür fährt er bis heute im Monat 3.000 Kilometer mit seinem Skoda Yeti zu Spielen, Turnieren und Trainingseinheiten und steht bei Wind und Wetter an den Spielfeldern. Meist vergeblich.
Betten gibt es in München für 13 Teenager zwischen 15 und 18 Jahren. Der letzte aus dem Osten, der es dorthin geschafft hat, war Toni Kroos. 2006, als 16-Jährigen, holten ihn die Münchner vom FC Hansa Rostock. Heute ist Kroos Nationalspieler. Fuß erwähnt das Beispiel auch, als er auf dem Gelände des Halleschen Fußballclubs (HFC) das Training der D-Jugend im Auge hat. Der Fall Kroos zeige bestens, wie selten der FCB zugreift. Davor stehen meist jahrelange Beobachtungen durch die Scouts. Es folgt eventuell ein Probetraining. In München schauen sich dann noch einmal drei bis fünf Experten die Kandidaten an. 99 Prozent fallen trotz ihres Talents durch.
Fuß hatte gerade je zwei Jungs aus Erfurt und Dresden zum Training vermittelt. Ihre Chancen? "Die Jugendlichen sind gut, sonst hätte ich sie ja nicht empfohlen. Aber jeden Tag sind bei den Bayern etwa zehn junge Kicker zu einem Probetraining." Das zu überstehen, sei ungemein schwierig. "Von allen", gibt Fuß zu, "die ich da untergebracht habe, hat es noch keiner ins Internat geschafft." Dann lacht er: "Zum Glück gibt es nicht so etwas wie ein Kopfprämie in meinem Vertrag."
Das Geschäft ist hart. Fuß steht in Konkurrenz zu den Scout-Kollegen anderer Erst- und Zweitligisten - und auch den Spielerberatern und ihren Teams. Alle suchen das eine Juwel. Würde etwa ein Talent aus Sachsen-Anhalt beim VfL Wolfsburg unterkommen und dort einschlagen, müsste sich Fuß aus München unangenehme Fragen gefallen lasen, warum er den Jungen übersehen habe. Also ist er mit dem Segen seiner Ehefrau Sybille ständig auf Achse. "Ich kann mir nicht vorstellen, mal samstags oder sonntags um 10 Uhr zu Hause zu sein." Am vergangenen Wochenende hat er sich mit 200 Zuschauern das 2:1 von Hertha gegen RB Leipzig im U-17-Pokalfinale des Ostens angeschaut.
Männer wie Fuß sind für die Klubs Gold wert. Die Ausbildung eines Spielers bis zum 18. Lebensjahr in den Internaten kostet etwa 50 000 Euro. Wer aus der Bayern-Schule kommt, es aber dort nicht schafft, bringt ab 300 000 Euro Ablöse-Summe ein. Und immer nutzen die Klubs die Vorarbeit des Deutschen Fußball-Bundes (DFB). Der sichtet über die Trainer seiner 360 Stützpunkte pro Jahr etwa 20 000 Kinder. Die Besten dürfen in den regionalen Nachwuchszentren mitmachen. Dabei zu sein, ist Pflicht, wenn man Profi-Träume hat. "Wer nur zweimal in der Woche trainiert, der hat ganz wenige Chancen", erklärt Fuß.
Bayern-Jacke bleibt im Schrank
Der Experte besitzt zwangsläufig auch einen scharfen Blick für Details. "Schon beim Warmmachen sieht man vielleicht zwei oder drei Jungs, die herausragen - durch Technik, Handlungsschnelligkeit, Athletik", erzählt Fuß. Er versucht stets, unerkannt zu bleiben und verzichtet deshalb auf die knallrote FC-Bayern-Jacke, die ihm der Klub gestellt hat. Die ersten Eindrücke saugt er auf. "Nach 15 Spielminuten könnte ich gehen. Dann weiß ich, ob ich richtig gelegen habe. Meist irre ich mich nicht", sagt er. In seinem Computer hat er die Profile von 300 jungen Kickern gespeichert, rund 1 000 Namen enthält die geheime Bayern-Datenbank.
Doch Fuß kennt zugleich den Fehler im System: "80 Prozent der Jungs, die auffallen, sind Offensivspieler, das bringt ihre Position einfach mit sich. Verteidiger haben es schwerer, zu glänzen. Und junge Torhüter einzuschätzen, ist fast unmöglich." Manche Jungs kicken zwar gut, disqualifizieren sich jedoch durch ihr Auftreten. "Wer im Spiel drei Mal massiv den Schiedsrichter anmeckert, dem fehlt es an Persönlichkeit, der sucht die Schuld immer bei anderen. Er kommt nicht in Frage", sagt Fuß.
Der erste Kontakt zu einem Auserwählten erfolgt über die Eltern. "Die muss ich erst einmal beruhigen, nachdem sie nur FC Bayern gehört haben." Dann geht es vielleicht zum Trainings-Test. Doch aus Sachsen-Anhalt hat es noch keiner nach München geschafft. "Wir müssen einfach die Trainer-Ausbildung im Land verbessern", sagt er - nun als Referent des Landesverbandes. Dafür bietet er mit seinem Team Kurzlehrgänge an. Vielleicht fruchtet das und hilft, dem 63-Jährigen seinen Traum zu erfüllen: "Natürlich hat man immer den Wunsch, dass es einmal ein Talent von meiner Liste bis ganz nach oben schafft." Und: "Ich würde mich aber für die Jungs mehr freuen als für mich."