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Ehrung Ehrung: Immer wieder aufs Eis

Von Iris Stein 12.12.2008, 16:17

HALLE/MZ. - Knapp eine Viertelstunde, dann geht es aus ihrem kleinen Büro in der Trainingshalle des Chemnitzer Eislaufclubs hinunter auf die Eisfläche. Jetzt, am späten Nachmittag, ist hier reichlich Betrieb. Doch an Frau Müller drängelt sich niemand einfach so vorbei. Da bleiben selbst die wuseligsten kleinen Eismäuse artig stehen und geben die Hand zum "Guten Tag!" Und das, spürt der Beobachter, geschieht nicht nur aus Höflichkeit, sondern auch aus grenzenloser Bewunderung.Jutta Müller ist eine Respektsperson. Das wissen alle, die sie kennen, und das glauben auch alle zu wissen, die sie nicht kennen. Ihre Strenge ist legendär. Hat sie das nie gestört, dieses Bild der unnachgiebigen Trainerin, das da jahrzehntelang von ihr gezeichnet wurde? Fast ist sie ein wenig irritiert, so, als hätte sie dies nie bemerkt. "Ohne Härte geht es nicht im Spitzensport", sagt sie (zum wievielten Mal eigentlich?), "und meine Sportler haben mir ja im Nachhinein Recht gegeben. Ich habe immer gedrängt, mich nie auf Siegen ausgeruht, es ging immer gleich weiter." Was sie nicht sagt: Von einem Erfolg zum nächsten.Trainerin wurde sie per Beschluss, denn eigentlich war auch Jutta Müller einst Eiskunstläuferin. Mit Irene Salzmann, ebenfalls später Trainerin in Chemnitz, trat sie 1949 zur Ostzonenmeisterschaft im Paarlauf an. DDR-Sportchef Manfred Ewald bestimmte 1955 jedoch, dass die Damen nicht mehr Wettkämpfe bestreiten, sondern Trainerinnen werden sollten. Jutta Müller hadert nicht, dass ihr möglicherweise eigene Erfolge auf Kufen verwehrt blieben. Dazu ist sie viel zu pragmatisch. "Nie hätte das geklappt", sagt sie knapp, "wir wussten doch damals gar nicht, was international los war, konnten uns höchstens mit tschechischen Läufern vergleichen." Nein, es war nicht die Zeit, und internationale Meriten sammelte sie später noch genügend mit ihren Schützlingen. Da ist nichts, weswegen sie heute trauern würde.Auf dem Eis wartet jetzt Matti Landgraf, 16 Jahre alt, hoffnungsvolles Nachwuchstalent. Er lief in der Saison 2007 / 2008 die drittbeste Kür bei den Deutschen Meisterschaften, trainiert bei Monika Scheibe. Eine Trainingseinheit in der Woche absolviert er bei Jutta Müller. Selbstverständlich steht sie mit auf dem Eis, gibt kurze, knappe Anweisungen. Gerade bis zur Kinnspitze reicht sie dem jungen Mann. Ein kurzes Nicken und Matti legt los.Jutta Müller kann gar nicht anders, als auf dem Eis zu stehen und Trainingsstunden zu geben, wie sie es bis heute für den Nachwuchs tut. Dass ihr immenses und international anerkanntes Wissen nach der Wende nicht gesamtdeutsch eingefordert wurde, das hat sie wohl enttäuscht. Aufgehört als Trainerin hat sie deshalb nicht. Nicht umsonst heißt ihre Biografie "Der schönste Sport der Welt". Was sich im Eiskunstlaufen tut, interessiert sie noch immer brennend. "Leistung", sagt sie, "die begeistert mich. Und diese Leistungsexplosion in den letzten Jahren, dass Mädchen dreifach-dreifach-Kombinationen springen, Jungen den dreifachen Axel in Kombination - das fasziniert mich."Wieder und wieder setzt Matti Landgraf mittlerweile den dreifache Salchow aufs Eis, konzentriert schaut Jutta Müller zu, zufrieden ist sie nicht. Setzt er zum Sprung an, holt sie tief Luft, reckt das Kinn und wird ein Stück größer. Sie holt ihn heran, beide schauen prüfend auf das Kufenbild im Eis, sie zeigt, erklärt, demonstriert die Armbewegung. Beim nächsten Versuch schüttelt sie schon leicht den Kopf bevor Matti Sekundenbruchteile später tatsächlich unsanft auf dem Hinterteil landet.Ob der junge Läufer jemals auf internationalem Parkett ganz vorn mitmischen kann, ist ungewiss, dass eine Trainerin wie Jutta Müller einen Sportler zu Höchstleistungen führen kann, dagegen vielfach bewiesen. Die ersten internationalen Erfolge feierte sie mit ihrer Tochter Gaby Seyfert. Und es dauerte nicht lange, da wusste die Fachwelt, mit ihren Schützlingen muss man rechnen. Die Namen vieler ihrer Läufer haben Klang bis heute: Anett Pötzsch, Jan Hoffmann, Sonja Morgenstern, Günter Zöller, Evelyn Großmann und Katarina Witt natürlich.Hat sie während ihrer Trainerlaufbahn nie daran gedacht, anderswo zu arbeiten, in den Ländern zu bleiben, von denen andere DDR-Bürger träumten? Sie schaut. Und wartet. Sie wäre hofiert worden in Amerika. Und hätte viel Geld verdienen können. Jutta Müller schaut immer noch. Sie hätte ein anderes Leben führen können. "Ja, und?" Das ist ihr ganzer Kommentar. Später sagt sie noch: "Ich hatte eine Aufgabe. Ich wusste, dass ich gebraucht werde." Den Sport wollte sie. Der Glamour, der gerade zum Eiskunstlauf gehört, bedeutet ihr nichts.In der Chemnitzer Trainingshalle dudeln Melodien aus "Jurassic Park" und "I'm Singing in the Rain". Die Stardichte ist beträchtlich, denn auch die einstige Olympiasiegerin und Weltmeisterin Anett Pötzsch ist mit einer Gruppe auf dem Eis und von der Brüstung schauen die aktuellen Weltmeister Aljona Savchenko und Robin Szolkowy beim Training zu.Jutta Müller ist weltbekannt, doch über ihr Privatleben weiß die Öffentlichkeit kaum etwas. Seit 1955 ist sie verheiratet mit Bringfried "Binges" Müller, einst 18-facher DDR-Fußballnationalspieler und Trainer von Wismut Aue. Sie mag Theater, Musik. "Aber das hat ja auch etwas mit Eiskunstlaufen zu tun", sagt sie, "ich höre Melodien, sehe Kostüme und denke, da kannst du was draus machen." Und schon ist sie wieder Trainerin.Als ihre Schützlinge Medaillen und Titel nur so sammelten, da lautete die Höchstnote im Eiskunstlauf 6,0. Jutta Müller selbst hat diese Traumnote nie erhalten. Aber sie hätte sie verdient.