Baden-Württemberg Baden-Württemberg: Tübingen auf Latein entdecken
Tübingen/dpa. - «Magni enim sunt annales Tubingenses», sagt Stadtführer Masanobu Paul Wakai. Tübingen sei eine Stadt mit großer Geschichte. Als «Burg Twingien» ist sie im 11. Jahrhundert erstmals erwähnt.
Damals gelang es dem deutschen Kaiser Heinrich IV. nicht, den Ort einzunehmen. Es folgt ein anderthalb stündiger Vortrag in den Gassen der Universitätsstadt. Der 36-jährige Japaner spricht flüssig und voll Witz - in einer Sprache, die es eigentlich gar nicht mehr gibt: Latein. Tübingen ist laut Altphilologenverband die einzige Stadt in Deutschland, die solch ein Touristenangebot im Programm hat.
«Stamus nunc ante portam arcis modo artium renascentium exornatam», erklärt Wakai. «Jetzt stehen wir vor dem Renaissanceportal des Schlosses.» Darauf seien vier römische Götter zu sehen, die alle etwas mit Kampf zu tun haben: Neptun, Diana, Minerva und Victoria. Kämpfen müssen auch einige der im Schnitt rund 15 Zuhörer. Die Führung - meist bietet Makai zwei bis drei im Monat an - fordert das Gehirn. «Wir hatten seit der Schule kein Latein mehr, es ist erstaunlich, wie viel aber noch hängen geblieben ist», sagen zwei Französischstudentinnen.
Stadtführer Wakai beobachtet die Minen seiner Teilnehmer genau um zu sehen, wie viel sie mitbekommen. «Je schlechter sie verstehen, desto mehr deutsche Wörter streue ich ein.» Ältere Semester seien zumeist fitter als Schüler. «Scio me nihil scire», ich weiß, dass ich nichts weiß - so solle sich niemand fühlen.
Für einige Lateinfans müsste er sich die Mühe nicht machen: «Ich beziehe eine Zeitschrift auf Latein, deshalb verstehe ich alles», sagt ein Informatiker. Und auch die Lateinlehrerin Christiane Schmidt ist begeistert: «Herr Wakai hat eine bildschöne Aussprache, und auch grammatikalisch ist alles richtig.»
Um mit der toten Sprache auch heutige Situationen benennen zu können, werden die Latinisten kreativ. «Ecce turris radiophonica», dort sehen Sie den Fernsehturm, referiert Wakai. Dann schaut er auf sein Handy. «Accepi modo nuntium parvulum», jetzt habe ich eine SMS bekommen. Den lockeren Umgang mit der Gelehrtensprache lernte der Japaner in einem Latein-Zirkel im Germanistik- und Philosophiestudium an der Universität Tübingen. Mit Gleichgesinnten plauderte er bei einer Tasse «potio Arabica» (Kaffee) Latein, irgendwann heckten sie dann die Idee für die lateinischen Stadtführungen aus.
In den Klang der Sprache hatte sich Wakai schon als Kind verliebt: «Ich hörte gerne zu, wenn meine Mutter als Chorleiterin in Kobe (Japan) mit ihren Sängern alte europäische Lieder einstudierte», sagt Wakai. «Im Lateinischen gibt es viele Vokale, die Sprache eignet sich zum Singen.» Während einer Gastprofessur seines Vaters in Jülich am Kernforschungszentrum besuchte er dort ein deutsches humanistisches Gymnasium. «Damals ist mir Latein leichter gefallen als Englisch.»
Damit die Tübingen-Touristen auch selbst zum Lateinsprechen kommen, richtet Wakai immer wieder Fragen an sie. «Auch manche Passanten sprechen mich plötzlich auf Latein an, eine Schülerin wollte etwa wissen: Ubi est McDonald's?», sagt Wakai. «Lingua Latina non mortua, sed vox est viva» - Latein sei keine tote, sondern eine lebendige Sprache. «Quod erat demonstrandum.» (Was zu beweisen war.)
Informationen: Bürger- und Verkehrsverein Tübingen (Tel.: 07071/913 60)