Australien Australien: Ned Kelly ist der Held des Fünften Kontinents

Glenrowan/dpa. - Wer die Pfade des populären Gangsters sucht, landet zwangsläufigim Nordosten des Bundesstaates Victoria. Weites Busch- und Weidelandgeht hier in die raue Bergwelt der Victorian Alps mit ihren fast 2000Meter hohen Gipfeln über. Fernab von Sydney, Barriereriff und AyersRocks zeigt sich ein Australien, wie es nicht alle Touristen erleben:ländlich, auf den ersten Blick unspektakulär und voller kleiner, ofthingebungsvoll gepflegter Attraktionen. Viele stammen aus dem späten19. Jahrhundert, und der Besucher merkt rasch: Während in den USA derWilde Westen erschlossen wurde, erlebte auch Australien wilde Jahre.
Zum Beispiel in der Kleinstadt Beechworth. Schmucke Holzhäuser mitüberdachten Veranden erinnern an die Kulissen der Western-Serie«Rauchende Colts». Der Ort besaß in den Jahren, in denen Ned Kellyund seine Bande die Gegend unsicher machten, ergiebige Goldminen. Dasim Jahr 1858 erbaute Gerichtshaus, in dem Kelly zum Tode verurteiltwurde und in dem noch bis 1989 Prozesse stattfanden, ist heute dasHerzstück des historischen Viertels, zu dem auch eine alteTelegrafenstation gehört. «Sie war schon zu Kellys Zeiten in Betriebund ist inzwischen die meistgenutzte Morsecode-Station auf der ganzenSüdhalbkugel», sagt die Touristenführerin Noelene Allen. Noch immerwerden Telegramme in die Welt geschickt: Di-did-di-did-did, klappertder Mann am Tresen mit der Taste und bedient damit eine Technik, diezur Spielerei geworden ist - ein Internetzugang steht gleich nebenan.
Zusammen mit anderen «Bushrangern» hatte Ned Kelly im Jahr 1878drei Polizisten erschossen und war erst zwei Jahre später seinenVerfolgern ins Netz gegangen. Wie der Prozess in Beechworth im August1880 ablief, können Touristen erleben, die eine Führung durch dashistorische Viertel buchen. Im noch wie vor 125 Jahren eingerichtetenGerichtssaal bekommt jeder ein Skript in die Hand und muss eine Rollespielen. «Dann gibt es zum Beispiel einen amerikanischen Richter,einen französischen Ned Kelly und einen deutschen Ankläger», erzähltNoelene. Oft werde Ned für unschuldig erklärt, «vor allem, wenn vieleFrauen in der Jury sind». Am Todesurteil geht aber kein Weg vorbei.
In Beechworth erinnert noch einiges mehr an den Mann, der nichtzuletzt wegen seiner Schutzkleidung berühmt geworden war, die einerRitterrüstung ähnlich sah. Die Apotheke ist nach ihm benannt, und in«Kelly[0x2019]s Bar and Bistro» hängt sein bärtiges Gesicht als großesPorträtfoto über der Theke. In der Ecke steht ein Nachbau seines 44Kilogramm schweren Eisengewandes samt des Helmes mit Sehschlitz.
Solche Rüstungs-Duplikate gibt es auch anderswo zu bestaunen, zumBeispiel in Glenrowan, dem Hauptort der Ned-Kelly-Verehrung. In demkleinen, staubigen Nest am Hume-Highway fand im Juni 1880 das letzteRevolvergefecht des berüchtigten «Bushrangers» statt. Die Show «NedKelly's Last Stand» wird täglich 15 Mal aufgeführt, von 9.30 Uhr anjede halbe Stunde. Allerdings sind es keine Schauspieler, die den Jobmachen, sondern Pappmachéfiguren, und die Knallerei kommt vom Band.
Einen Sinn ergibt die vorgetragene Geschichte nicht so recht. Und17 Dollar (10,20 Euro) Eintritt dafür zu verlangen, grenzt schon andie Taten des Wegelagerers Kelly, was auch den Schriftsteller BillBryson bereits in Rage versetzte: Er habe «selten etwas so wunderbar,so entzückend, so kolossal Schlechtes gesehen wie Ned Kelly's LastStand» schreibt er im Buch «Frühstück mit Kängurus». Die Show ist inder Tat so gekünstelt, dass sie schon wieder interessant wirkt.
Auch der Rundweg zu den Originalschauplätzen der Schießerei könnteeine Politur vertragen: Die Holzfigur, die nahe des alten Bahnhofs inGlenrowan die Stelle markiert, an der der angeschossene Kelly gefasstwurde, steht in ihrer Schlichtheit für die Provinzialität des Ortesund dafür, dass im ländlichen Australien nicht zwingend ein Künstleram Werk gewesen sein muss, um eine Touristenattraktion zu schaffen.
Ganz Glenrowan ist geprägt vom Erinnern an die heroische FigurKelly, die hier nicht zuletzt als Lockvogel für Touristen-Dollarsdient. «Ned's Burger House» ist nicht weit entfernt von «Kate Kelly'sTea House», vor dem eine sechs Meter hohe Plastikfigur mit Eisenhelmund Gewehr im Anschlag Wache hält. Im kleinen Museum gleich nebenanwird unter anderem die Theorie vertreten, Ned und seine Bande hättenim Jahr 1880 die Gründung einer Republik im Nordosten Victorias imSinn gehabt. Ob das stimmt, weiß man nicht so genau, aber es nährtauf jeden Fall den Ruf eines politischen und volkstümlichen Helden.
Doch es sind nicht nur die direkt mit Ned Kelly verbundenen Orte,die Touristen nach Nordost-Victoria locken. Nordöstlich von Glenrowanzweigt die Great Alpine Road vom Hume Highway ab. Die Straße führtzunächst durch eine Region, in der Freunde guter Weine und schönenEssens nicht zu kurz kommen. Etwa 20 Weingüter nutzen das Klima, das«nicht zu kalt und nicht zu heiß ist», wie es Richard Harris von derBrown Brothers Winery in Milawa beschreibt. Weinproben sind auf denmeisten Gütern möglich. «Vor vier Jahren konnte man nirgendwo lokalenWein kaufen, alles wurde exportiert», erzählt Veronica Beauchamp vomregionalen Tourismusamt. «Doch das hat sich geändert: Essen undTrinken sind für Touristen ein wichtiger Anziehungspunkt geworden.»
Traditionelle Gründe, die Gegend entlang der Great Alpine Road zubesuchen, waren und sind das Buschwandern und Aktivitäten wieDrachenfliegen. Ausgangspunkt dafür ist meist das Städtchen Bright amFuße des Mount Buffalo Nationalparks. Das bereits 1898 eingerichteteSchutzgebiet, das jährlich etwa 250 000 Besucher verzeichnet, bietetWander- und Klettertouren für jeden Geschmack. Am Jahresanfang 2003wurde es zwar von schweren Buschfeuern heimgesucht, die 93 Prozentdes Parks betrafen, erklärt der Ranger Darin Lynch. Doch langsam holtsich die Botanik das verlorene Terrain zurück.
Neben längeren Wanderungen unter anderem zu zwei weit abgelegenenZeltplätzen gibt es auf dem Hochplateau des Nationalparks aucheinfache Touren für Tagesbesucher. Der 1,8 Kilometer lange «MonolithWalk» zum Beispiel führt zu einer markanten Steinformation inmittenvon Eukalyptusbäumen der Sorte «Buffalo Sallee», die nur hier im Parkvorkommt. Ein etwas steilerer Aufstieg über glatte Felsstufen undHolzleitern endet am 1723 Meter hohen Gipfel «The Horn» mit einer360-Grad-Rundumsicht bis weit in den Nachbarstaat New South Wales.
Das Hochplateau des Mount Buffalo, das sich oft als Wolkenfängeram blauen Himmel über Victoria betätigt, fällt nach Norden hin steilab. Einen Eindruck davon vermittelt der 2,5 Kilometer lange «GorgeHeritage Walk» mit Blick in eine Schlucht, die seit mehr als 150Jahren eine Besucherattraktion ist und einst die Keimzelle des Parkswar. Vom «Pulpit Rock» aus schweift der Blick der Tageswanderer überdie erst 1965 bezwungene, rund 300 Meter hohe Nordwand der Schlucht,deren Durchsteigung komplette drei Tage in Anspruch nimmt.
Ob Ned Kelly je diesen Ausblick genoss? Als Kelly 1854 geborenwurde, waren die ersten Siedler hier bereits angekommen. Und als er1880 gehenkt wurde, war der Goldrausch in Beechworth schon fastGeschichte.
Kellys letzte Stunde schlug jedoch nicht in «seinem» NordostenVictorias, sondern zwei Tagesritte entfernt in Melbourne. Auch imdortigen «Old Melbourne Gaol», das heute Touristen für Besichtigungenoffen steht, ist der Volksheld allgegenwärtig. Sein Revolver ist inden historischen Mauern ausgestellt, ebenso seine Totenmaske. Auchder Hinrichtungsbalken, an dem 1880 das Seil hing, ist in dem 1852bis 1854 gebauten Zellenblock noch im Originalzustand erhalten.
Damit den Kindern der Besucher bei so viel Geschichte nichtlangweilig wird, können sie sich einen Helm und Brustschutz imKelly-Stil aufsetzen, was australische Eltern in der Regel sofort zurKamera greifen lässt. Und im Souvenirshop muss Ned Kelly sogar heutenoch hängen: als Handpuppe an den Verkaufsständern für 12,50 Dollar.
