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Waldemar Cierpinskis Jubiläum Waldemar Cierpinskis Jubiläum: Der große Triumph von Montreal

Von Fabian Wölfling 30.07.2016, 22:00
Waldemar Cierpinski auf dem Weg zum ersten Olympiasieg eines deutschen Marathonläufers 1976 in Montreal.
Waldemar Cierpinski auf dem Weg zum ersten Olympiasieg eines deutschen Marathonläufers 1976 in Montreal. Imago

Halle (Saale) - Am Nachmittag des 31. Juli 1976 war Waldemar Cierpinski ganz entspannt: „Ich hatte mich mittags ein Stündchen hingelegt und zählte nach dem Aufwachen nur 36 Herzschläge. Das war vor so einem Ereignis sehr ruhig.“ Erstaunlich ruhig sogar. Schließlich war das anstehende Ereignis nicht irgendein Rennen, sondern der Marathon der Olympischen Sommerspiele in Montreal - und Cierpinski war der einzige Starter der DDR.

Hätte der damals 26-jährige Hallenser zum Zeitpunkt seine Erwachens schon gewusst, was an diesem Tag passieren würde, sein Herz hätte wohl deutlich schneller geschlagen. Denn an diesem 31. Juli 1976, an diesem Samstag vor 40 Jahren, wurde aus dem bis dahin nahezu unbekannten Athleten der erste und bis heute einzige deutsche Olympiasieger im Marathonlauf.

Kurz vor dem Karriereende

Dabei wäre der wahrgewordene olympische Traum fast geplatzt, bevor er überhaupt richtig losging. Eigentlich war Cierpinski auf den Hindernislauf spezialisiert und strebte einen Start über 5 000 und 10 000 Meter in Montreal an. Nur: Er war nicht gut genug. „Im Herbst 1975 wurde ich aus dem Olympiakader gestrichen, meine Leistungen im Hindernislauf reichten nicht für eine Nominierung.“ Ein schwerer Schlag für Cierpinski: „Ich habe damals mit meiner Frau überlegt, ob es überhaupt noch Sinn macht, mit dem Sport weiterzumachen“, erinnert er sich.

Glücklicherweise hatte Cierpinski neben dem Hindernislauf noch einen Plan B: den Marathon. 1974 und 1975 hatte er sich im slowakischen Kosice spaßeshalber auf der Langdistanz erprobt und konnte ohne spezielle Vorbereitung erstaunlich gut mit den weltbesten Läufern mithalten. Aber als der Entschluss zum Disziplinenwechsel im Herbst 75 reifte, war Olympia nicht mehr weit entfernt und Cierpinski nicht auf die Marathonstrecke trainiert. „Also habe ich mit meiner Frau gerechnet. Dreimal täglich trainieren die Weltbesten, dann müssen wir viermal am Tag trainieren.“ Dieser Trainingsfolter setzte sich Cierpinski auf eigene Faust aus - und hatte damit Erfolg.

Bei seinem ersten offiziellen Marathonstart im Mai 1976 in Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz, unterbot Cierpinski die Olympianorm von 2:14 Stunden um sechs Sekunden. Das reichte den DDR-Funktionären aber nicht. „Man hat in Berlin gesagt, der Cierpinski ist doch ein Hindernisläufer.“ Also musste er nur sieben Wochen später noch mal ran, in Wittenberg unterbot er die Norm erneut und erzielte dabei sogar die fünftbeste Zeit des Jahres. Der Weg nach Montreal war damit endlich frei und Cierpinski vorsichtig optimistisch: „Ich bin mit ein bisschen Hoffnung nach Kanada geflogen, aber mit einer Medaille habe ich nicht gerechnet.“ Nach eigener Einschätzung fehlte ihm dafür die Erfahrung, fehlte ihm die Härte - eigentlich.

Zweikampf mit Frank Shorter

Aber der eigentlich unerfahrene Cierpinski war perfekt vorbereitet. Seine ganze Olympia-Vorbereitung hatte er auf Frank Shorter ausgerichtet. Der US-Amerikaner war der überragende Marathonläufer der damaligen Zeit. Bis zu den Spielen in Montreal war der Olympiasieger von München 1972 nie bezwungen worden. „Shorter hat seine Gegner mit Zwischensprints zermürbt“, erklärt Cierpinski das Erfolgsrezept des US-Boys.

Darauf stellte sich Cierpinski ein, trainierte genau diese Tempoläufe immer wieder während seiner Vorbereitung. „Deshalb hatte ich in Montreal eine klare Struktur im Kopf, ich wollte mich mit Frank Shorter messen und sehen, ob mein hartes Training richtig war.“

Der große Favorit Shorter und Nobody Cierpinski waren dann auch die bestimmenden Figuren des olympischen Rennens. Wie von Cierpinski erwartet, zog Shorter ab der Mitte des Marathons mit seinen Zwischensprints allen Konkurrenten davon - allen, bis auf einen: Cierpinski ließ sich nicht abschütteln. „15 Kilometer lang hat er immer wieder angezogen, es war eine richtige Schlacht“, so Cierpinski. Shorter wollte den unbekannten Rivalen mit aller Macht hinter sich lassen, aber es gelang ihm einfach nicht. „Das hat mir natürlich Auftrieb gegeben, während Shorter immer wieder einen Schlag abbekommen hat, wenn ich wieder an ihm dran war“, gibt Cierpinski Einblick in die Psychologie des Zweikampfs.

Einen letzten verzweifelten Versuch startete Shorter bei Kilometer 35. „Wir waren gerade durch das Universitätsgelände von Montreal gelaufen, da raste er wie bekloppt einen Berg hoch“, erinnert sich Cierpinski. Oben angekommen war der Akku des Olympiasiegers leer, Cierpinski immer noch da und dann auf und davon: „Auf einmal war Shorter weg.“

Der international kaum bekannte Hallenser, der keine zwölf Monate vorher seinen Traum von einer Olympiateilnahme schon fast begraben hatte, war plötzlich auf Kurs in Richtung Goldmedaille. Es waren aber noch acht Kilometer zu gehen: „Die schwersten für einen Marathonläufer“, so Cierpinski. Die konnten ihn auf dem Weg zum Triumph aber nicht aufhalten: „Ich habe einfach mein Tempo weiter durchgezogen.“ Mit einem komfortablen Vorsprung lief Cierpinski ins Olympiastadion ein - und kam trotzdem nur als Zweiter ins Ziel. Shorter erwartete ihn bereits.

Unfreiwillige Ehrenrunde

„Kurz habe ich gedacht, ob ich alles nur geträumt habe“, erinnert sich Cierpinski an die chaotische Situation zurück. Geträumt hatte er nicht, er war einfach nur eine Runde zu viel gelaufen. „Als ich gerade meinen Zielsprint ansetzen wollte, sah ich einen Monitor, auf dem eine Eins aufleuchtete.“ Das sah Cierpinski als Aufforderung und lief noch eine weitere Runde. „Man kam auf der Außenseite der Bahn ins Stadion und wechselte dann auf die Innenseite, wo man eine Runde zu laufen hatte.“ Das machte Cierpinski, aber die Jury hatte nach seiner Innenrunde die Anzeige nicht rechtzeitig verdeckt. So kam der große Kontrahent Shorter vor dem Hallenser zum Stehen.

Die Goldmedaille bekam natürlich trotzdem Cierpinski. 2:09:55 Stunden hatte er für die 42,195 olympischen Kilometer benötigt, damals olympischer Rekord und heute noch eine der besten Zeiten, die je ein deutscher Marathonläufer gelaufen ist.

Was er an diesem 31. Juli 1976 erreicht hatte, konnte Cierpinski unmittelbar nach dem Rennen aber zunächst nicht begreifen: „Es ging alles so schnell. Direkt nach dem Rennen ging es erst zur Dopingkontrolle, dann zur Siegerehrung. Anschließend gab es einen Empfang der DDR-Olympia-Mannschaft.“ Erst um fünf Uhr morgens fiel der frischgebackene Olympiasieger ins Bett, noch voller Emotionen konnte er aber nicht schlafen. „Also bin ich um 6 Uhr morgens in den Olympiapark gegangen.“ Um zu laufen. Weit kam er aber nicht, nach den Strapazen des Vortages versagten nach einem Kilometer die Beine. Da endlich war er sich sicher - der Olympiasieg war kein Traum. „Dann habe ich mich erstmal ins Gras geworfen und war glücklich.“

Jubiläumsfeier im Oktober

Glücklich und leer. „Mit dem Olympiasieg hatte ich mir meinen Kindheitstraum erfüllt, die Motivation für Hochleistungssport war erstmal weg.“ Er wollte die Laufschuhe an den Nagel hängen, aber nach seiner Rückkehr aus Montreal erwarteten ihn in seiner Wohnung in Halle Wäschekörbe voller Glückwunschschreiben aus der ganzen DDR. „Die Leute schrieben mir, dass sie den letzten Teil der Strecke mit Tränen in den Augen verfolgt hätten und sich so ein Ereignis noch einmal wünschen würden.“

Damit hatte Cierpinski den nötigen Anreiz, sich noch einmal zu quälen und er schaffte vier Jahre später in Moskau tatsächlich die Titelverteidigung. Welcher Triumph wiegt im Rückblick schwerer: „Hart waren beide, aber beim ersten sind 26 Jahren innerhalb kurzer Zeit durch meinen Kopf geflossen, das erlebt man nicht noch einmal in dieser Form.“

Natürlich wird das vierzigjährige Jubiläum dieses einmaligen Erlebnisses auch feierlich begangen. Allerdings nicht an diesem Sonntag, dem 31. Juli. „Am 3. August ist mein Geburtstag, und ich will nicht eine ganze Woche durchfeiern“, sagt Cierpinski. Stattdessen hat sich der Olympiasieger einen passenden Rahmen für das Jubiläum ausgedacht. „Die Feier ist für den Tag vor dem Mitteldeutschen Marathon im Oktober geplant. Dazu lade ich alle Marathonläufer des nächsten Tages ein, einige gute Freunde und ein paar Olympiasieger“, erzählt Cierpinski.

Bestimmt wird er dort auch erzählen, wie er an diesem 31. Juli 1976 aus dem Mittagsschlaf aufwachte - erstaunlich entspannt.

(mz)