Erfolgsgeschichte Vom Alkoholiker zum Langstreckenläufer: Erfolgsgeschichte eines Hallensers

Halle (Saale) - Das letzte Glas war eins mit Champagner. Und die letzte Flasche, sie war leer. „Natürlich“, sagt Ralf Werner. Fast zwei Jahrzehnte lang hat er nie etwas zu trinken stehen lassen. Immer rein damit, immer mehr und dann noch einen Schluck drauf. Bis zu diesem letzten Abend vor ziemlich genau zwei Jahren. „Ich habe die zweite Champagnerflasche zu gelassen“, erinnert sich Werner, „das war schon der erste Sieg.“
Ein ganz kleiner nur. Aber nach einem Leben im Vollrausch ist das mehr als Werner von sich selbst erwartet hatte. Er sei ein kontrollierter Alkoholiker gewesen, von Anfang an, beschreibt er. Es gab keine Ausfälle, kein Komasaufen, keine verpassten Termine. „Ich habe mich einfach komplett volllaufen lassen und war am nächsten Tag pünktlich auf Arbeit.“
Werner, der in Wirklichkeit anders heißt, mit Rücksicht auf seine Familie aber lieber so genannt werden möchte, entspricht nicht dem Klischeebild eines Alkoholkranken. Der 41-Jährige spricht vortragsreif, die blauen Augen strahlen, sein Bauch ist sixpack-flach und unterm T-Shirt schauen straffe Muskeln hervor. Ralf Werner ist Sportler und er sieht aus wie einer. Heute.
„Mein Zuhause war eins ohne Drogen, kein Tabak, kaum Alkohol“
„Aber in meiner Hochzeit habe ich nach ein paar Stufen gekeucht wie ein alter Mann.“ Werner ist damals kein Mittdreißiger, sondern ein Wrack. Was tun dagegen? „Der Alkoholiker“, sagt er, „weiß: etwas trinken.“
Wie es soweit kommen konnte, kann der gelernte Kellner heute selbst nicht mehr sagen. „Mein Zuhause war eins ohne Drogen, kein Tabak, kaum Alkohol“, beschreibt er. Die üblichen Rituale, mit denen junge Männer erwachsen werden, fallen bei Ralf Werner aus. „Kein Besäufnis zur Jugendweihe, kein Saufen als Teenager.“ Den ersten Rausch hat der Hallenser tatsächlich erst mit 18, sagt er. Und er war nichts, was die Erinnerung lohnt.
In diesem Alter sind da auch noch große Ziele. Tierarzt will Ralf Werner werden. Der Weg dahin führt ihn über eine Ausbildung mit Abitur, wie sie in der DDR üblich ist. Als die Wende kommt, sitzen die künftigen Rinderzüchter auf der Straße. Und Werner, dem in der Schule alles zugeflogen ist, merkt, dass er am normalen Gymnasium nicht mitkommen wird. „Nur, wenn ich mich reinkniee“.
Verlockend klingt das nicht. „Also habe ich meinen Eltern gesagt, dass ich lieber Kellner lerne.“ Das kann so schwer nicht sein, denkt er. Eine Lehrstelle findet sich in einem Hotel im Harz, das den frischgebackenen Restaurantfachmann nach der Ausbildung übernimmt.
Die Flasche Whiskey als Wegzehrung auf dem Beifahrersitz
Alkohol ist kein Thema im Leben des Hallensers. Er trinkt, aber weder regelmäßig noch viel. Als das Arbeitsamt ihm eine Förderung für eine Ausbildung zum geprüften Barmixer anbietet, spricht nichts dagegen. Kein Gedanke daran, sein bester Kunde zu werden.
Aber die Weichen sind nun irgendwie gestellt. Ralf Werner sitzt an der Quelle. Es braucht keine große persönliche Krise, um aus dem eloquenten Mix-Artisten hinter der Bar einen Mann zu machen, der in seiner Wohnung stets 50 Euro vor sich selbst versteckt, „um im Notfall zur Tanke fahren und Nachschub holen zu können“.
Es reichen Gelegenheit, Gewohnheit und das Gefühl, dass ihm der Alkohol nichts anhaben kann. „Selbst als ich ganz unten war“, sagt Ralf Werner, „hatte ich nie Schwierigkeiten, mal zwei, drei Tage gar nichts zu trinken.“
Er ist kein Spiegel-Trinker, der ständig unter Strom steht. „Ich bin ein Kontrollverlusttyp“, weiß er heute. Das meint: Nach dem ersten Schluck gibt es für ihn kein Ende, bis alles ausgetrunken ist. „Ich verpasse einfach den Moment, wo andere sagen, okay, reicht.“
Werner arbeitet in Bars in Hessen, er ist der Chef, angehimmelt, bewundert, immer angetrunken. Er arbeitet in Österreich, und der Barbesitzer stellt ihm jede Nacht eine Flasche Wodka zum Eigenverbrauch hin.
Trinkt er daheim, geht es nicht mehr um den Spaß. „Sondern nur noch darum, sich schnell abzuschießen.“ Wenn Ralf Werner nach Halle fährt, um seine Eltern zu besuchen, legt er sich eine Flasche Whiskey als Wegzehrung auf den Beifahrersitz. „Musik laut, Flasche auf, so bin ich aufgeputscht bis nach Halle gefahren.“
„Und ich wollte doch leben, auf jeden Fall.“
Und immer findet er Ausreden. Den Eltern gegenüber, die manchmal fragen, ob er betrunken gefahren sei. „Niemals, Mama, du kennst mich doch“, habe er dann gesagt, „ich habe nur einen kleinen Absacker genommen.“ Freunde schweigen. Und die doch etwas sagen, werden aussortiert. „Ich brauche keinen, habe ich gedacht“, sagt Werner.
Selbst als ihn dann keiner mehr braucht, weil er bei Partys nur noch volltrunken am Türrahmen lehnt, reicht das nicht als Wecksignal. „Ich wusste ja, dass ich nicht trinken muss, sondern jeden Tag aufhören kann“, erklärt Werner. Also besteht keine Notwendigkeit, aufzuhören. „Ich war pünktlich und ich war garantiert kein Penner - deshalb konnte ich ja wohl kaum ein Alkoholiker sein.“
Das Training mit mehreren Flaschen täglich schlägt an. Nach einer Party erwischt ihn die Polizei mit 3,32 Promille am Steuer. Zum Glück, sagt er heute, sei bis dahin nie etwas passiert. Nun ist der Führerschein weg. „Im Grunde war ich da erleichtert.“ Bei einer anderen Festivität knickt er mit 4,6 Promille zusammen, so dass der Gastgeber einen Krankenwagen ruft. „Deshalb weiß ich die Zahlen.“
Ein Besuch bei den anonymen Alkoholikern bleibt der einzige. Die Welt ringsum wird auch immer unwichtiger. Der nächste Schluck, die nächste Flasche, die nächste Lüge, das zählt. „Mein Vater hat dann gesagt, komm, wir gehen mal zur Stadtmission, die haben eine Suchtberatungsstelle.“ Das ist schon die Zeit, in der Ralf Werner schnauft und keucht.
Ein Arzt hat ihm mittlerweile mitgeteilt, dass er eine Fettleber hat. „Die Vorstufe zur Zirrhose“, sagt Werner. Er habe damals gerade noch kapiert, dass ein Mensch ohne Leber tot ist. „Und ich wollte doch leben, auf jeden Fall.“
Leben mit einer unheilbaren Krankheit
Mit Carina Barnickol und Jürgen Birkner-Schöne von der Stadtmission findet Werner im letzten Moment zwei Leute, die ihm in ein neues Leben helfen. Barnickol bahnt ihm den Weg zu einer Langzeittherapie im Harz, fast genau dort, wo er und der Alkohol zueinander gefunden hatten.
Werner absolviert sie mit zusammengebissenen Zähnen. „Ich bin kein Mensch für geschlossene Gruppen“, sagt er, „aber ich habe dort Schicksale gesehen, durch die ich wusste, dass ich durchhalten musste.“
Nach fünf Wochen wieder zu Hause, ist er entschlossen, den alten Ralf Werner zu beerdigen. Der neue beginnt mit Jürgen Birkner-Schöne, der bei der Stadtmission eine Sportgruppe für Menschen mit Suchtproblemen leitet. Es ist, als hätte der missbrauchte, malträtierte und über Jahre hinweg regelmäßig vergiftete Körper nur darauf gewartet, geweckt zu werden.
Werner, der eben noch keinen Kilometer am Stück laufen konnte, wird „relativ schnell schnell“, wie er heute schmunzelt. Er startet beim Heidelauf und spurtet sich über ein Jahr auf das Podest der Rennserie. Sein Nachbar auf dem Siegertreppchen fragt ihn: „Und wo bist du vorher gelaufen?“ Werner antwortet: So schnell wie möglich in die Kneipe.
„Es ist nie zu spät, neu anzufangen“
Birkner-Schöne weist ihn dann auf einen Halbmarathon hin, den er doch mal mitlaufen könne. Werner, trainiert nun längst ernsthaft mit Trainingsplan und Trainingszielen. Der Ballast der dunklen Jahre, er wird weniger mit jedem Tropfen Schweiß. Und die Zeiten werden besser. Seinen ersten Halbmarathon hat Ralf Werner im letzten Herbst mit einer Zeit von 4,21 Minuten pro Kilometer absolviert. „Inzwischen bin ich bei 4,09 Minuten - im Training“, sagt er stolz.
Sport ist Bestätigung, Sport ist Leben, Sport ist die gesunde Sucht, die ihn jeden Tag auf die Straße zieht, als könne er den vielen verlorenen Jahren weglaufen. Der Bluthochdruck ist weg, die Fettleber, das Schnaufen. „Es ist nie zu spät, neu anzufangen“, sagt Ralf Werner, der mit dem Abschied von Suff und Zigaretten zu einer großen Gelassenheit gefunden hat.
Der heutige Sportler schaut nicht traurig und nicht entsetzt auf den Riesenumweg, den er bis hierher genommen hat. „Ich kann es eh’ nicht ändern“, sagt er, der um sein Leben gerannt und nun endlich in ihm angekommen ist. Die Krankheit Alkohol, sie ist da, sie bestimmt auch ohne einen Tropfen immer noch sein Leben. „Unheilbar ist das“, sagt Werner.
Aber am Sonntag wird er zum ersten Mal einen Marathon laufen. Trotzdem. Oder gerade deshalb. Beim Leipzig-Marathon hat Ralf Werner eine Gesamtlaufzeit von drei Stunden und 15 Minuten angepeilt. Er schmunzelt. Im Herbst, beim Mitteldeutschen Marathon, denkt er, könnte dann schon eine zwei vorn stehen. (mz)