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Besondere Wende für DDR-Sprintstar  Marlies Göhr: DDR-Sprintstar wurde am Tag des Mauerfalls Mutter

Von Kristof Stühm 07.11.2019, 07:12

Jena/Hamburg - Während die Welt am 9. November 1989 nach Berlin blickt, schaut Marlies Göhr im Krankenhaus in Jena immer wieder ganz verliebt auf ihre gerade erst geborene Tochter. Die Bilder vom Mauerfall sieht die einst schnellste Frau der Welt aus der DDR erst später.

„Nadja ist morgens zur Welt gekommen. Wir hatten keinen Fernseher im Zimmer im Krankenhaus, aber trotzdem schnell mitbekommen, dass da wohl etwas vor sich geht“, sagte Göhr dem SID über den Schicksalstag der deutschen Geschichte, der für sie in doppelter Hinsicht ganz besonders war: „Aber mein Mann und ich haben gedacht, dass kann doch alles nicht wahr sein.“ Doch: Es war wahr.

Marlies Göhr lief die 100 Meter als erste Frau unter elf Sekunden

Und Göhr, die 1977 als erste Frau der Welt die 100 m unter elf Sekunden (10,88) rannte, hat eine Idee: Patenonkel der kleinen Nadja soll unter anderem Klaus Wolfermann werden - Leichtathletik-Legende aus dem Westen. „Wir haben uns 1981 kennengelernt“, sagte die 61-Jährige über den Beginn der Freundschaft zum Speerwurf-Olympiasieger von 1972 vom einstigen Klassenfeind.

Westkontakte waren für die DDR-Athleten strengstens verboten, aber Göhr, Olympiazweite über 100 m von 1980, hat sich daran nie gehalten. Bei Wettkämpfen nicht und auch außerhalb der Saison nicht. Wolfermann habe ihr bis zur Wende auch „immer Pakete geschickt“, sagte die Weltmeisterin von 1983. Und Wolfermann schickte nicht nur Klamotten und Schuhe der Sportartikel-Firma, für die er damals arbeitete.

„Die Person, die diese Pakte für mich angenommen hat, war bei der Stasi, wie ich später aus meiner Akte erfahren habe“, sagte Göhr. Noch so ein Stück deutscher Geschichte. 1990 feiern Göhr und Wolfermann zusammen in Jena die Taufe von Nadja.

Marlies Göhr nennt den Mauerfall einen „Glücksfall“

Heute ist der Kontakt nicht mehr ganz so intensiv, aber immer noch da. „Jena und Penzberg - leider wohnen wir mittlerweile recht weiter auseinander“, sagte Göhr, auf deren Karriere wie bei so vielen DDR-Athleten ein Doping-Verdacht liegt: „Aber auf verschiedenen Veranstaltungen sehen wir uns oder wir rufen uns gegenseitig an.“

Die 30 Jahre seit diesem denkwürdigen 9. November „sind schon sehr schnell vergangen. Damals wussten wir nicht, was kommt“, sagte Göhr: „Heute kann ich sagen: Das war ein Glücksfall. Zum Glück haben wir das noch erlebt.“ Für sie, die 1988 nach den Olympischen Spielen in Seoul ihre Laufbahn beendet hatte, war das Jahr 1989 der „komplette Neuanfang, alles passierte auf einmal“, sagte Göhr, die später ihren Abschluss in Psychologie im wiedervereinten Deutschland machte.

Göhr arbeitet mittlerweile im Saale Betreuungswerk der Lebenshilfe in Jena, engagiert sich als stellvertretende Vorsitzende beim LC Jena und freut sich über ihre Enkelin Ida. „Das ist eine flotte Biene“, sagte Göhr. Eine Karriere als Trainerin aber kam für sie nie infrage. „Meine Ansprüche wären wohl zu hoch“, sagte Göhr, die mit der DDR-Sprintstaffel zweimal Olympia-Gold gewann und mit ihren 10,81 Sekunden von 1983 immer noch den offiziellen deutschen Rekord hält. (sid)