Darts-WM Darts-WM: Schotte Gary Anderson entzaubert Phil "The Power" Taylor

Köln/London - Am Ende eines hinreißenden Abends standen sie alle auf den Stühlen: Die Wikinger, die Außerirdischen, die Feuersteins, die Banditen, die Riesenbananen und alle anderen Fan-gewordenen Inkarnationen, die den Darts-Karneval beim WM-Finale im Londoner Alexandra Palace so einzigartig machen. Ihr Held in dieser Finalnacht hatte noch die Kraft, den riesengroßen Pokal des Weltmeisters in die Höhe zu stemmen. Dann gab er in seinem rätselhaften schottischen Akzent die nötigen Interviews und bemühte sich um zeitige Heimreise. „Ich will meinen kleinen Sohn sehen, das habe ich seit Weihnachten nicht getan“, sagte Gary Anderson (44), dem der größte Sieg seiner Karriere gelungen war mit dem knappsten aller möglichen Ergebnisse: Einem 7:6 über Phil Taylor (54), der nun mit dem Schicksal leben muss, den 17. WM-Titel nicht gewonnen zu haben. „Es war so eng heute, ich hatte eine riesengroße Chance, zu gewinnen. Aber Gary hat es verdient, er hat so viele Sachen richtig gemacht“, erklärte die Legende aus Stoke on Trent.
Gary Anderson wusste, was diesen Moment so speziell machte. „Wenn Menschen in 100 Jahren über Darts sprechen, werden sie über den Namen Phil Taylor sprechen. Über niemanden sonst. Es wird kein anderer Name fallen“, sagte der Schotte, der trotz all seines Talents dem besten Spieler der Geschichte schon in so vielen Spielen unterlegen war. „Immer hat sich das Ding in Phils Richtung geneigt“, sagte Anderson, der Böses ahnte, als der Altmeister nach weit über zwei Stunden einen 4:6-Rückstand in ein 6:6 verwandelte und das Endspiel in den Entscheidungssatz zwang. „Da dachte ich, er holt es sich wieder“, sagte Anderson. Doch er hatte sich geirrt.
Taylor bekam keine Chance mehr. Gary Anderson beendete das Finale mit einem gelungenen Wurf auf die Doppel-12 und war zum ersten Mal Weltmeister. „Es gibt Abende, die gehören nur dir selbst, und das heute war mein Abend“, nuschelte er in seinem schweren Idiom und war um 250 000 Pfund, umgerechnet rund 320 000 Euro, reicher.
Höhepunkt einer Erfolgsgeschichte
Dies ist der vorläufige Höhepunkt einer Erfolgsgeschichte, die das deutsche Publikum seit Jahren exklusiv vom Spartensender Sport1 serviert bekommt, dessen Reportergespann Elmar Paulke und Tomas „Shorty“ Seyler es sich leisten kann, für seinen geliebten Sport live auf Sendung alle Hemmungen zu verlieren. Darts ist bunt, Darts ist verrückt, Darts is tatsächlich „in“. Minuten nach dem Finale twitterte Fußball-Weltmeister Toni Kroos als einer von vielen Stars etablierter Sportarten dem Sieger seine Glückwünsche entgegen. Der Sender verzeichnete eine Rekordquote von 1,36 Millionen (in der Spitze 1,89 Millionen) Zuschauern bis nahe Mitternacht.
Gary Anderson war in all dem Trubel aber nicht danach zumute, bis zur Besinnungslosigkeit zu feiern. „Ein Kaffee reicht mir schon“, erklärte der Mann, den der Tod seines Vaters und seines Bruders nach der Vizeweltmeisterschaft 2011 emotional aus der Bahn geworfen hatte. Und gerade, als er zurück war auf dem Weg zu alter Klasse, bekam er eine Sehschwäche. Eine Brille hätte ihn in seinem komplexen Bewegungsablauf gestört, Kontaktlinsen lehnt Anderson wegen einer Phobie vor Fremdkörpern im Auge ab und für eine Laser-Operation fehlt ihm schlicht der Mut. Also wirft er seine unglaublich hohen Punktzahlen mit einer Mischung aus Erinnerung, Gefühl und Restsicht.
„Er hat es einfach verdient“, sagte Phil Taylor, dem es nicht gelungen war, seinen Gegner während der Partie mit Neckereien aus der Ruhe zu bringen. In der Niederlage war dann aber großherzig: „Wenn ich schon gegen einen verlieren muss, dann gegen Gary, er ist einfach ein guter Typ. Aber nächstes Jahr werde ich wieder da sein.“