"Wir sind sauberer als uns gut tut" "Wir sind sauberer als uns gut tut": Warum Panik vor Staub und Keimen ungesund ist

Halle (Saale) - Wenn es um Hygiene geht, klingen die Werbeversprechen für viele Menschen verheißungsvoll - von „24-Stunden-Deo“ bis „entfernt 99,9 Prozent der Bakterien“. Hanne Tügel hat dazu - basierend auf ihren Recherchen - eine eigene Meinung. In ihrem Buch „Sind wir noch ganz sauber? Klüger mit Schmutz umgehen, gesünder leben, der Umwelt helfen“ (Edel, 288 Seiten, 17,95 Euro) erklärt die frühere Redakteurin des Magazins „Geo“, wieso es wenig clever ist, Panik vor Staub und Keimen zu haben - genauso wie sich darum überhaupt nicht zu kümmern. Mit Hanne Tügel hat Antonie Städter gesprochen.
Frau Tügel, wie oft putzen Sie Ihre Wohnung?
Hanne Tügel: Nicht so oft wie der Durchschnitt. Ich bin eher der Typ Putzmuffel, Marktforscher sprechen auch vom „Lebenskünstler“, der sich von Schmutz nicht übermäßig beeindrucken lässt, kaum anfällig ist für Picobello-Blitzblank-Werbung und keine Angst hat, was die Nachbarin denken könnte, wenn sie plötzlich klingelt und die Fenster nicht geputzt sind. Zu diesem Putztyp gehören relativ wenige 15 Prozent der Deutschen.
Sind Sie schon immer Putzmuffel oder wegen Ihrer Erkenntnisse?
Tügel: (lacht) Ich gebe zu, schon immer. Aber jetzt weiß ich, dass ich intuitiv auf der wissenschaftlich richtigen Seite war.
Im Ernst, was bedeutet kluges Putzen?
Tügel: Abrüsten in Küche und Bad! Über unsere Epoche wird man im Rückblick mal sagen, dass wir beim Waschen und Putzen viel zu viel des vermeintlich Guten getan haben. Die meisten von uns sind mit zu aggressiven Chemikalien aktiv - und viel häufiger als es sinnvoll ist. Ich führe da gern Hygieia an, die griechische Göttin, die der Hygiene vor 2.500 Jahren den Namen gegeben hat. Sie war nicht in erster Linie für Ultra-Clean-Sauberkeit zuständig, sondern für Gesunderhaltung. Sauber und gesund ist ja keineswegs dasselbe - oft im Gegenteil.
Wie meinen Sie das?
Tügel: Viele Produkte haben Allergiepotenzial oder enthalten Mikroplastik. Und dann gibt es noch die Bakterienkiller in Putzmitteln und Hand-Gels, die versprechen, dass 99.9 Prozent aller Bakterien nach Gebrauch verschwinden. Diese Desinfektionsmittel sind eher Chemiewaffen als Pflegemittel. Sie sind besonders problematisch und unsinnig. Man kann und sollte sein Zuhause nicht so steril halten wie ein Labor.
Dabei klingt es doch erst einmal hilfreich, wenn Bakterien entfernt werden.
Tügel: Beim Punkt Desinfektion sind viele Verbraucher von heute beim Wissensstand des späten 19. Jahrhunderts stehengeblieben. Wir bekämpfen Bakterien so, als ob in unseren Küchen und Bädern die Cholera wütet. Inzwischen sollten wir wissen, dass es falsch ist, alle Bakterien vernichten zu wollen. Die meisten sind segensreich, sie gehören in unsere Umwelt und unsere Körperflora und halten sich gegenseitig in Schach.
Bis zu einem gewissen Grad wissen wir das auch alle, viele löffeln ja probiotische Bakterien im Joghurt. Trotzdem hat sich die Bakterienphobie erhalten. Der Umsatz aggressiver Desinfektionsmittel im Haushalt steigt weiter. Das ist ungesund. Zudem wirken aggressive Chemikalien ja weiter, wenn sie im Ausguss gelandet sind. Sie erzeugen entweder giftigen Klärschlamm, der teuer entsorgt werden muss. Oder sie können nicht abgebaut werden und gelangen in die Umwelt.
Wieso verhalten wir uns in Zeiten, da Nachhaltigkeit an Bedeutung gewinnt, so widersprüchlich: einerseits die Umwelt retten wollen, andererseits Massen an Chemikalien verwenden?
Tügel: Sauberkeit ist ein Multimilliardenmarkt. Die Werber versuchen uns einzureden, dass ultimative Reinheit ein Ziel ist, das man anstreben sollte. Und sie haben Erfolg. Ein Drittel der Verbraucher in Deutschland gehört zum Putztyp, der im Marketing-Deutsch „Perfektionist“ heißt. Sie jagen jedem Staubkorn hinterher, putzen dreimal am Tag das Klo. Es gab eine Studie, die eine Schmuddel-WG mit einem Picobello-Haushalt verglichen hat: Für die Gesundheit spielte das keine Rolle.
Was sind konkrete Tipps für einen gesunden Mittelweg?
Tügel: Auf aggressive Reinigungs- und Pflegemittel verzichten - das ist und bleibt die wichtigste Regel im Haushalt. Hilfe, um sich im Überangebot der Drogerieartikel zurechtzufinden, bieten das Umweltsiegel Blauer Engel des Umweltbundesamts, das EU-Ecolabel („Euroblume“) und Informationen von Verbraucherschützern. Eine weitere Maßnahme ist, Schmutz nicht eintrocknen zu lassen. Wer sofort aktiv wird, braucht weniger Reinigungsmittel.
Noch ein Tipp: Fenster auf! Durchzug ist besser als Raumspray. Schlechter Luft in Räumen mit künstlicher Beduftung zu begegnen, ist keine gute Idee: Düfte aus der Dose können die vorhandenen nur überdecken, nicht vertreiben. Viele Substanzen aus dem Duftspektrum sind zudem gefährlich für Allergiker. Frische Luft ist generell gut. Bakterien mögen Feuchtigkeit. Gute Maßnahmen sind also: Betten auslüften, die Waschmaschine und den Geschirrspüler nach Gebrauch offenstehen lassen.
Und wie ist das mit der Körperhygiene? Da wird ja auch viel gewaschen und beduftet.
Tügel: Insgesamt sind wir auch hier sauberer als uns gut tut. Häufiges Händewaschen ist wichtig, damit Bakterien nicht über Kontakt mit Mund und Nase ins Körperinnere gelangen. Im Übrigen macht die Haut uns die Pflege leicht. Sie lebt. Sie agiert als Schutzschicht, die sich selbst versorgt. Zur Gesichts- und Hautpflege sind nicht mehr als Wasser und Seife nötig. Der Rest ist aus medizinischer Sicht Kür.
Manche machen sich trotzdem Gedanken, dass weniger waschen oder putzen gesundheitlich problematisch werden könnte.
Tügel: Die Natur ist voller Staub und Krankheitskeime. Und die Evolution hat Menschen und Tiere mit körpereigenen Waffen ausgerüstet, um Schmutz abzuwehren. Das Immunsystem ist die raffinierteste biologische Schmutzabwehr, die man sich denken kann. Die Hautschichten bieten Barrieren für Staub, antibakterielle Bestandteile in der Spucke und den Schleimhäuten werden fast immer mit Krankheitserregern fertig. Vieles, was der Mensch tut oder lässt, beeinflusst das Immunsystem. Als segensreich zu seiner Stärkung hat sich ausreichender Schlaf erwiesen. Als Fazit könnte man also sagen: Wer ab und zu länger schläft statt zu putzen, tut sich selbst und der Umwelt viel Gutes.