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Widersprüche nach Amoklauf in Winnenden

14.03.2009, 19:10

Winnenden/dpa. - Neue Widersprüche nach dem Amoklauf in Winnenden: Die Familie des Täters Tim K. und die Behörden äußerten sich am Samstag gegensätzlich über eine psychotherapeutische Behandlung des 17-Jährigen.

Während die Ermittler von mehreren Besuchen in einer Spezialklinik sprachen, bestritten die Eltern über ihren Anwalt, dass ihr Sohn psychotherapeutisch behandelt worden ist.

Bei der Bluttat am vergangenen Mittwoch in Winnenden und Wendlingen starben 16 Menschen. Nach Informationen des «Spiegels» hat der Jugendliche noch in der Nacht vor der Tat das Online-Killerspiel «Far Cry 2» gespielt. Die Polizeidirektion Waiblingen teilte am Samstagabend mit, es gebe dafür «momentan keine gesicherten Hinweise». Auf dem Rechner des Täters sei allerdings eine «größere Zahl» Pornobilder gefunden worden. Darunter hätten sich Abbildungen von nackten und gefesselten Frauen befunden. Auch die Ballerspiele «Counterstrike» und «TacticalOps» seien auf dem Computer installiert gewesen.

In Winnenden wurde am Samstag das erste Opfer des Amoklaufs beerdigt. Hunderte trauerten vor der Schule, wo das Massaker begann. Die politische Debatte über die Konsequenzen wurde fortgesetzt.

Die Familie des Amokläufers dementierte laut «Focus» und «Bild am Sonntag», dass der 17-Jährige psychotherapeutisch behandelt worden ist. Dagegen betonten Polizei und Staatsanwaltschaft am Samstag erneut, der Todesschütze sei zwischen April und September 2008 in einer psychiatrischen Spezialklinik «mehrmals vorstellig» geworden. Bereits zuvor hatten die Behörden erklärt, der Amokläufer sei wegen Depressionen behandelt worden. Die Therapie habe er aber abgebrochen.

Der Anwalt der Familie, Achim Bächle, sagte der «Bild am Sonntag», er erwäge rechtliche Schritte gegen den Arzt, weil dieser seine Schweigepflicht gebrochen habe. Der Leiter des Klinikums Weissenhof in Weinsberg, Matthias Michel, hatte am Donnerstag im SWR gesagt: «... der spätere Täter wurde bei uns behandelt, im Jahr 2008 auf ambulanter Basis, das heißt, er hat insgesamt fünf Termine hier bei uns gehabt und zwar dem Alter entsprechend in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und in der dortigen Ambulanz.» Bächle betonte in der «BamS» erneut, der 17-jährige Tim K. sei nicht in psychotherapeutischer Behandlung gewesen. Ob er damit auch dementierte, Tim K. sei auch niemals in ambulanter psychotherapeutischer Behandlung gewesen, blieb unklar.

Widersprüche hatte es zuvor bereits darüber gegeben, ob Tim K. den Amoklauf im Internet von seinem Computer aus angekündigt hatte. Diese Information des Innenministeriums stellte sich als falsch heraus.

Der 17-Jährige Tim K. hatte am Mittwochmorgen an seiner früheren Schule, der Albertville-Realschule in Winnenden, und auf der Flucht nach Wendlingen 15 Menschen und sich selbst erschossen. Wenige Stunden zuvor soll er noch Killerspiele im Internet gespielt haben, berichtet «Der Spiegel» unter Berufung auf Ermittler. Die Auswertung des Rechners von Tim K. habe ergeben, dass der 17-Jährige am Dienstagabend gegen 19.30 Uhr das Spiel «Far Cry 2» startete und den PC gegen 21.40 Uhr ausschaltete.

In Winnenden wurde unterdessen das erste Opfer des Amoklaufs zu Grabe getragen. Viele hundert Menschen gaben der Zehntklässlerin das letzte Geleit. «Wir können die Tat nicht begreifen, die ihr den Tod brachte», sagte der Priester in der katholischen Trauerfeier. Unter den Trauergästen waren auch zahlreiche Mitschüler der Klasse 10d, die den Amoklauf und den Tod des Mädchens mitangesehen hatten. Vor der Schule, in der Tim K. neun Schüler und drei Lehrerinnen getötet hat, versammelten sich auch am Samstag hunderte Menschen. Bundespräsident Horst Köhler forderte zum Nachdenken darüber auf, «ob wir unseren Mitmenschen immer die notwendige Aufmerksamkeit entgegenbringen», wie er den in Dortmund erscheinenden «Ruhr Nachrichten» sagte.

In der «Bild»-Zeitung meldete sich die Familie des Amokschützen zu Wort. «Wir können es immer noch nicht fassen», sagten die Großeltern am Samstag in einem Interview. «Er war doch ein ganz normaler, ruhiger Junge für uns.» Ein Großonkel des 17-Jährigen meinte auf die Frage, was er den Hinterbliebenen sagen möchte: «Man möchte sich vor allem entschuldigen.» Er wünsche den Angehörigen, «dass sie darüber hinwegkommen werden, irgendwie, im Laufe der Zeit».

In dem Online-Spiel «Far Cry 2» geht es um die blutigen Abenteuer eines ehemaligen US-Soldaten. Nach Angaben des «Spiegels» hat sich Tim K. schon vor Monaten auch mit Schulmassakern beschäftigt. Der 17- Jährige sei unter Pseudonymen im Internet aktiv gewesen und habe sich auch in einem Diskussionsforum zu den Massakern von Erfurt und Emsdetten gemeldet.

Psychologen berichteten in Winnenden, die meisten Schüler und Lehrer hätten ihren ersten Schock überwunden. Nun gelte es, vorsichtig damit zu beginnen, die traumatischen Erlebnisse aufzuarbeiten, sagte der Leiter des Kriseninterventionsteams der Schulpsychologen, Dieter Glatzer. Vor dem Rathaus standen die Menschen Schlange, um sich in ein Kondolenzbuch einzutragen. Die Stadt richtete ein Spendenkonto für die Hinterbliebenen ein.

In der Debatte über die Konsequenzen aus dem Massaker kündigte Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) in der «Bild am Sonntag» an: «Ich will am Dienstag in meinem Kabinett über das Killerspielverbot, über die Aufbewahrung von Waffen und vor allem über mehr Prävention beraten.» Der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) forderte mehr Geld für eine bessere Internet-Kompetenz bei der Polizei.

Ein weiterer Trittbrettfahrer sitzt in Untersuchungshaft. Der 19- jährige Schüler aus Ilsfeld in Baden-Württemberg hatte nach Behörden- Angaben in der Nacht zum Freitag mit einer Schießerei in einer Realschule gedroht.