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Urteil Urteil: Inzest-Kinder bekommen Entschädigung

Von Joachim F. Tornau 16.04.2002, 13:33

Kassel/dpa. - Wenn ein Vater seine Tochter sexuell missbraucht,hat ein dabei gezeugtes und behindertes Kind Anspruch auf staatlicheGewaltopferentschädigung. Das entschied das Bundessozialgericht (BSG)in Kassel am Dienstag in einem Grundsatzurteil. Voraussetzung seiallerdings, dass das Kind mit Behinderungen auf die Welt komme, dienachweislich durch den Inzest verursacht wurden, urteiltenDeutschlands höchste Sozialrichter (Az.: B 9 VG 1/01 R).

Der Senat schloss damit eine Gesetzeslücke. Bislang lehnten dieLandesversorgungsämter eine Entschädigung für die körperlichen undseelischen Schäden von Inzest-Kindern in der Regel ab und verwiesenauf die fehlende rechtliche Grundlage. Von solchen Fällen ist imGesetz nicht die Rede. Nach Auffassung der Richter dürften sie abertrotzdem nicht ausgeschlossen werden. «Es ist ein Gebot derGerechtigkeit, Gleichartiges gleich zu behandeln», erklärte derVorsitzende Richter Peter Kummer in der Urteilsbegründung vor demHintergrund von Entschädigungszahlungen für Opfer vonGewaltverbrechen.

Im großen Plenarsaal des Kasseler Gerichts ging es um mehr als nurum die Rechtsfragen. Es ging auch um die letzte Hoffnung für eine46 Jahre alte Frau aus Mecklenburg-Vorpommern. Seit ihrer Jugend warsie von ihrem Vater immer wieder sexuell missbraucht worden. Nacheiner dieser regelmäßigen Vergewaltigungen wurde sie schwanger. 1979kam ihre Tochter Sabrina zur Welt - sie ist als Folge des Inzestskörperlich und geistig schwerstbehindert. In einem Gutachten wurdeanhand einer Genanalyse festgestellt, dass die Schädigungen desMädchens durch den Inzest verursacht wurden.

Der Fall wurde totgeschwiegen und für Inzest-Opfer gab es in derDDR keine Anlaufstelle. So blieben die Vergewaltigungen des Vatersunbestraft. Nach der Wende waren seine Taten verjährt. «Wenn Sabrinaals Opfer anerkannt und entschädigt wird, kann ich abschließen»,sagte die Frau dem Magazin «Stern». «Das wäre Gerechtigkeit.» Bevores so weit ist, muss ihr Schicksal allerdings noch einmal vor demLandessozialgericht in Neubrandenburg verhandelt werden. Die Richterdort, so entschied das BSG, müssen endgültig klären, ob das Kindtatsächlich bei einer Vergewaltigung gezeugt wurde.

Dass Sabrina kein Einzelfall ist, ist sicher. Wie viele Kinderjedoch jedes Jahr in Deutschland von sexuell missbrauchten Frauengeboren werden, weiß niemand genau. «Die Dunkelziffer ist enormhoch», sagt Ulrike M. Dierkes, Gründerin und Vorsitzende des Vereins«M.E.L.I.N.A.» in Stuttgart, der sich um Hilfe für Inzest-Kinderbemüht. Mehr als 100 000 Mädchen würden jedes Jahr von ihrenAngehörigen missbraucht, sagt Dierkes. Aber natürlich setzten Väter,die ihre minderjährigen Töchter geschwängert haben, alles daran, dieTat zu vertuschen - und könnten meist auf das Schweigen von Familieund Nachbarschaft hoffen.

Auch die Inzest-Kinder selbst meldeten sich aus Angst vor sozialerÄchtung nur selten zu Wort, so die Vereinsvorsitzende. «Das ist eineMinderheit im Schatten der Gesellschaft, die bislang immer durchsNetz gefallen ist.» Wie viel das Urteil des Bundessozialgerichtsdaran ändern wird, vermag sie nicht einzuschätzen. «Aber es istwenigstens ein Ansatz, an dem man weiter arbeiten kann.»