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Unglück Unglück: In der Hölle von Eindhoven

Von RÜDIGER FRITZ 23.09.2011, 15:42
Der 76 Jahre alte Klaus Urbanczyk ist ein Dauergast bei seinem Halleschen FC.
Der 76 Jahre alte Klaus Urbanczyk ist ein Dauergast bei seinem Halleschen FC. Löffler/Archiv

Halle (Saale)/MZ. - Manchmal blutet seine Seele. Wenn die Schreie in sein Gedächtnis zurückkehren, seine eigenen. Sie dringen bis in sein Innerstes. "Null, Rhesusfaktor positiv. Null, Rhesusfaktor positiv. Null, Rhesusfaktor positiv." Klaus Urbanczyk sagt: "Ich habe immer wieder meine Blutgruppe gebrüllt. Bis auf einmal nur noch schwarze Nacht um mich war. Als ich Stunden später wieder zu Bewusstsein kam, war sogar schon die Operation vorüber."

Der 71-jährige Klaus Urbanczyk steht allein und gedankenverloren auf dem Rasen des Erdgas Sportparkes, dem neuen Zuhause seines Halleschen FC. "Banne" Urbanczyk, das Idol des halleschen Fußballs, wurde in diesen Tagen mit dem Trubel um das Stadion viel herumgereicht. Jetzt hat er eine Stunde der Besinnung und gibt sich den Erinnerungen hin. Sie gelten den tragischen Ereignissen von vor fast genau 40 Jahren. Die Feuer-Tragödie, die sich in den frühen Morgenstunden des 28. September 1971 im Hotel "Tsilvere Zeepard", dem "Silbernen Seepferdchen" in Eindhoven ereignete, der Unterkunft des Oberliga-Mannschaft aus Halle, hat sich in sein Gedächtnis in allen Details eingebrannt.

Klaus Urbanczyk zieht die Ärmel seines Sweatshirts zurück bis zum Ellenbogen. Zum Vorschein kommen die von Narben übersäten Unterarme. Für immer werden sie ihn an die Schreckensnacht erinnern. Sein mutiges Handeln und diese Verletzungen brachten ihm den Ruf eines Helden ein - was er damals nicht gern gehört hat und auch heute nicht möchte. "Ich habe nur getan, was ich tun konnte", meint er. Mit bloßen Armen und Beinen hat der Hallenser eine Glastür und Fenster durchschlagen, um viele andere Hotelgäste ins Freie zu führen und zu retten.

In der dritten und vierten Etage des fünfstöckigen "Seepferdchen" wohnte die HFC-Mannschaft. Urbanczyk teilte sich ein Zimmer mit dem Spieler Günter Riedl. Sie wurden als erste durch den Rauch und platzende Fensterscheiben wach und schlugen Alarm. "Die ,help me'-Rufe aus den anderen Etagen drangen zu uns. Wir begannen sofort zu helfen, instinktiv, ohne viel zu überlegen", erzählt Urbanczyk. Seine Mitspieler Peter Klemm und Rainer Lange retteten ein schwedisches Ehepaar und Roland Nowotny eine amerikanische Dolmetscherin über das Hoteldach. Denn nach unten war der Weg wegen des Flammeninfernos verschlossen.

Mit einem Sprung auf das acht Meter tiefer gelegene Zwischendach entkam der an Armen und Beinen stark blutende Klaus Urbanczyk dem Flammentod im letzten Moment. Am nächsten Tag standen Teamgefährten am Krankenbett von "Banne" in einer Eindhovener Klinik. "Seid ihr soweit in Ordnung?", fragte ich. "Doch die Köpfe gingen nach unten." Sie überbrachten ihm die traurige Nachricht, dass sein erst 21-jähriger Mitspieler Wolfgang Hoffmann bei dem Großbrand den Tod gefunden hatte. Die Mannschaft flog, den Sarg mit Wolfgang Hoffmann an Bord, zurück. Klaus Urbanczyk musste noch vier Wochen bleiben. Ihm drohte die Amputation des linken Armes, weil sich eine bedrohliche Infektion breit gemacht hatte.

Zehn Jahre habe er gebraucht, um über die Katastrophe hinwegzukommen, meint der 34-fache Nationalspieler und Olympia-Bronzemedaillengewinner von 1964. "Wenn meine Frau mit dem Geschirr klapperte, standen mir die Haare zu Berge. Sofort hörte ich das Bersten der Scheiben im Eindhovener Hotel", offenbart Klaus Urbanczyk. "Wenn ich im Fernsehen Feuer sah, musste ich mich abwenden und das Zimmer verlassen."

Inzwischen kann er über die Brandnacht reden. Drei Ereignisse haben ihm geholfen, die Katastrophe zu verarbeiten. Im olympischen Fußball-Turnier 1964 in Tokio hatte er sich beim Halbfinalsieg der DDR gegen die Tschechoslowakei schwere Knieverletzungen zugezogen. Als nach dem dritten Platz die Mitspieler Klaus Urbanczyk mit dessen Gipsbein in einer großen Geste zum Siegerpodest halfen, schien das Ende seiner Fußball-Karriere besiegelt zu sein. Der harte Verteidiger, der zu den Besten Europas gehörte und auch mal mit fünf gebrochenen Rippen ein Länderspiel durchgehalten hatte, glaubte selbst nicht mehr an ein Comeback. Doch nur ein Jahr später spielte er wieder Fußball. "Nach dem Unglück von Eindhoven sagte ich mir, du hast nach Tokio das Unmögliche geschafft", so Klaus Urbanczyk, "nun musst du alle Kraft aufbringen und mit dem Unglück von Eindhoven fertig werden."

Als späterer Trainer stand er mit dem 1. FC Magdeburg zwischen 1976 und 1982 ununterbrochen im Europapokal. 1978 weilte er mit den Magdeburgern beim späteren Europapokalsieger Eindhoven. Nach einigem Überlegen entschloss er sich, die Unglücksstelle aufzusuchen. "Es hat mir geholfen, mehr Ruhe zu finden. Von dem bis auf die Grundmauern abgebrannten Hotel war nichts mehr zu sehen." Es wurde nicht wieder aufgebaut. An seiner Stelle befand sich nun ein Kaufhaus.

Das dritte Ereignis, das Klaus Urbanczyk sein Trauma zu überwinden half, liegt erst fünf Jahre zurück. Der PSV Eindhoven kam 2006 zu einem Freundschaftsspiel nach Halle, gewissermaßen als späten Ausgleich für das wegen der Feuerkatastrophe ausgefallenen Europapokal-Rückspiels. Halles Mannschaft von 1971 erhielt von den Niederländern Trikots des PSV mit dem jeweiligen HFC-Spielernamen. Guus Hiddink, ein in aller Welt hoch begehrter Trainer und vor 40 Jahren ein junger Eindhovener Spieler, nahm am Abend Klaus Urbanczyk zur Seite. "Du warst damals ein viel besserer Spieler als ich", sagte er zu mir und meinte, dass sich der PSV nach dem 0:0 in Halle nicht sicher war, zu Hause gegen uns die nächste Runde im Europacup zu erreichen. Durch diese Begegnung hat sich für ihn ein Kreis geschlossen.

Klaus Urbanczyk ist aus dem Fußball in seiner Heimatstadt nicht wegzudenken. Für seinen Halleschen FC beobachtet er die nächsten Spielgegner und sucht Talente für den Verein. Das neue Stadion lässt Hoffnungen aufkeimen.

Jetzt streift er die Ärmel seines Sweatshirts wieder nach unten und verdeckt die Wunden von Eindhoven. Die Gegenwart hat ihn wieder.