Türkei Türkei: Straßenhunde werden vergiftet
ISTANBUL/DPA. - Etwa zwanzig Hunde bellen, balgen sich und kullern übereinander, als Susanne sich zu ihnen herunterbeugt. Sie will die vielen Hundeköpfe tätscheln. Deren Fell ist starr vor Staub. Die Tiere riechen modrig. "Ach ist der süß", ruft die blonde Frau. Sie zeigt auf einen Mischling mit braunschwarzem Fell und traurigen dunklen Augen. "Der heißt jetzt Franka." Die Hündin ist damit eine von den wenigen Auserwählten, die die Tierschützerin aus dem Heim im Istanbuler Vorort Beykoz mit nach Deutschland nehmen wird.
Hündin Franka scheint zu spüren, dass sie zu den Auserwählten gehört, denn sie weicht Susanne nicht mehr von der Seite, als sie ihren Gang durch das Tierheim fortsetzt. Susannes Kollegin, eine kleine untersetzte Frau mit tiefen Falten im Gesicht, ist mit einer - Liste angereist: "Ich suche einen größeren Schäferhundrüden", erklärt sie der türkischen Pflegerin Yasemin, die sie durch das Heim führt - vorbei an einem Auslauf mit dreibeinigen Hunden, die aufgeregt am Zaun entlanghumpeln. Im Gehege gegenüber sind Einäugige untergebracht. Yasemin zeigt der Deutschen auch andere Hunde, doch diese bleibt entschlossen: Ein Schäferhundrüde muss es sein.
Auf die etwa sieben Vorbestellungen auf der Liste warten Familien in Deutschland. Auch Franka werde keine Probleme haben, ein Zuhause zu finden, erklärt Susanne.
Mit der Adoption einzelner Tiere werde das Problem vor Ort nicht gelöst, kritisiert der Deutsche Tierschutzbund. Die Tiere vermehrten sich weiter unkontrolliert. Wirksamer als eine Adoption findet der Verband es daher, Hunde im Land selbst zu kastrieren. "Es kann natürlich keine Lösung sein, alle Tiere nach Deutschland zu bringen", so sieht das auch die Vorsitzende der norddeutschen Tierschutzorganisation, die ihren eigenen und den Namen des Vereins nicht veröffentlichen will. Für viele Experten gilt als erwiesen, dass weder das Töten noch das Einfangen von Hunden das Straßenhunde-Problem löst. Der Tierschutzkritiker Uwe-Peter Willemsen, der nach jahrelanger Arbeit im Tierschutz mit der Internetseite "Tierschutz Schattenseiten" auf Missstände hinweisen will, stellt auch die Motive der Hunde-Importeure infrage. "Es gibt Organisationen, die importieren bis zu 1 000 Hunde im Jahr, nehmen sie fertig geimpft aus ausländischen Tierheimen mit und vermitteln sie dann gegen eine Schutzgebühr von bis zu 400 Euro", sagt er. Das ergebe einen Umsatz von 400 000 Euro im Jahr.
"Für die Menschen hier sind Hunde nur Dreck", erklärt die türkische Tierschützerin Banu, die die Deutschen begleitet hat. Häufig würden Straßenhunde vergiftet oder verstümmelt. Das Tierheim in Beykoz sorgte 2008 international für einen Aufschrei unter Tierschützern. Yasemin war damals eine der Leiterinnen des Heimes. Die Stadtverwaltung verweigerte ihr den Zutritt, so dass sie die Hunde nicht versorgen konnte. "Der damalige Bürgermeister war ein böser Mann", sagt Yasemin. "Er hat die Hunde gehasst." Bilder von bis auf die Knochen abgemagerten Hunden und Gräbern mit vergifteten Tieren gingen um die Welt.
Auch heute noch sieht man in dem idyllischen Städtchen immer wieder tote Hunde am Straßenrand. Das Straßenhunde-Problem ist hier am äußersten Rand von Istanbul besonders ausgeprägt: Der Wald von Beykoz ist ein beliebter Platz für Istanbuler, hier ihre Hunde auszusetzen, wenn sie dem knuffigen Welpenalter entwachsen sind. Auch städtische Tierfänger bringen eingefangene Hunde aus der Innenstadt oft einfach in den Wald. Auf 350 000 Einwohner kommen deshalb in Beykoz 10 000 Straßenhunde.
Diese Art der Problemlösung nach dem Motto "Aus den Augen, aus dem Sinn" hat in der Türkei Tradition: Schon im Jahr 1910 ließ der damalige Innenminister Talat Pascha etwa 80 000 Hunde auf Istanbuls Straßen einfangen und brachte sie auf eine kleine Insel im Marmara-Meer. Die felsige Insel bot den Tieren keine Nahrung - sie verhungerten. Man sagt, man habe nachts ihr Bellen bis nach Istanbul hören können.
In Beykoz will die neue Regierung das Problem jetzt angehen: Man habe schon einen neuen Tierarzt eingestellt und schaffe nun bis zu 20 Kastrationen am Tag, erklärt Neslihan Aydos, Gesundheitsbeauftragte der Stadt. Auch habe man eine Kampagne gestartet, um Familien in Beykoz zu finden, die den Hunden ein Zuhause geben. "Auch ich selbst habe schon einen Hund bei mir aufgenommen", erklärt die junge Frau mit dem tiefroten Kopftuch und lächelt. "Er heißt Cengiz."
Aydos kritisiert ebenfalls das Verhalten der öffentlichen Tierfänger. "Klar müssen die Tiere eigentlich an dem Ort wieder ausgesetzt werden, wo sie eingefangen wurden", sagt sie. "Aber viele Gemeinden machen das leider nicht." Gegen den Vorwurf der Grausamkeit städtischer Angestellter gegen die Hunde wehrt sie sich aber: "Niemand kann die Hunde töten oder vergiften, das ist gegen das Gesetz."
Doch nicht überall sind die Zustände so dramatisch wie in Beykoz. Ein Beispiel ist Besiktas, ein Stadtteil auf der anderen Seite des Bosporus. Hier gehören Hunde zum Straßenbild dazu wie der bunte Mix aus Studenten-Bars und kleinen Ramsch-Geschäften. In einer Nebenstraße mit heruntergekommenen Häusern und großen blauen Mülltüten vor den zahlreichen Imbissbuden leben fünf Straßenhunde. Ihr Futter bekommen sie morgens vom Apotheker an der Ecke, der kleine Fleischbrocken auf die Straße wirft. "Komm schon", sagt ein Student und tippt einen Mischling mit der Fußspitze an, der auf dem Bürgersteig schläft. Im Ohr des Hundes steckt eine hellgrüne Marke - ein Zeichen, dass er geimpft wurde. Auch Hündin Franka hat alle Impfungen, muss aber noch gemeinsam mit Yasemin bei der Stadtverwaltung vorstellig werden, um eine Ausreiseerlaubnis nach Deutschland zu bekommen.