Spurensuche Spurensuche: Die drei Leben des Tim K.

WINNENDEN/MZ. - Der Tag danach istein leiser Tag. "Der Tod hat Einzug gehaltenin hässlicher Form", hatte der evangelischeBischof Frank July am Mittwochabend in derSt. Bartholomäuskirche von Winnenden gepredigt.Der Geistliche versuchte Worte zu finden fürdas, was am Morgen an der Albertville-Realschulepassiert war: 16 Tote durch die Hand eines17-Jährigen. Tim K. ist nun eine öffentlichePerson. Er ist der Amokläufer von Winnenden.
Wie gelähmt ist dessen HeimatgemeindeLeutenbach. Ganz besonders in Weiler zum Stein- einem Teilort, wo Familie K. sich ein Hausmit Wintergarten und Erker hingebaut hat.5000 Menschen wohnen in dem Ort, man kenntsich. Eine Nachbarin nennt die Familie K."fleißige, anständige Leut’". "Schaffig" seiensie. Das ist im Schwäbischen das höchste Lob.Tim K., so heißt es in Weiler fassungslos,stamme doch "aus gutem Haus". Vater Jörg istein mittelständischer Unternehmer. Seine Firmastellt technische Bauteile für Verpackungenher. 20 Angestellte beschäftigt das Unternehmen.Mutter Ute stammt aus Weiler, auch die Großelternwohnen am Ort. Eine angesehene Familie also,wohl gelitten und im Gemeindeleben aktiv.Dazu gehört wohl auch, dass der Vater Sportschützeim SSV Leutenbach ist. 13 Waffen und 4600Schuss Munition hat er in zwei Tresoren mitachtstelligen Zahlencodes verwahrt. Nur eineWaffe, das wusste Tim, bewahrte der Vaterim Schlafzimmer auf - es ist jene Beretta9 Millimeter, durch die 15 Menschen und Timselbst den Tod finden.
"Es gab keine Anzeichen", sagte LandespolizeidirektorErwin Hetger direkt nach der Tat. Es ist das,was die Ermittler immer zuerst sagen. Es warleider nicht die Wahrheit. Es trifft wohleher zu, dass Tim, wie Kultusminister HelmutRau (CDU) vermutete, nicht nur die Schießleidenschaftvom Vater geerbt hat, sondern trotz Erfolgenim Tischtennisverein eine "doppelte Identität"lebte. Eine für die Welt um ihn herum - undeine für sich. Eine, in der er keine Freundinfand und nicht recht anerkannt wurde - undeine, in der er ein Held mit machtvollen Möglichkeitenwar.
"Amoklauf in Reinkultur" hatte Baden-WürttembergsPolizeipräsident Erwin Hetger kurz nach derTat kommentiert. Noch in der Nacht zum Mittwochsoll Tim K. in einem Chatroom bei "krautchan.net"eingeloggt gewesen sein, einem deutschsprachigenInternetportal, dessen Server in den USA betriebenwird. Um zwei Uhr 47Minuten soll er die Tatin einem Chat angekündigt haben. Ein Jungeaus Bayern, der die Nachricht gelesen habenwill, vertraut sich nach der Tat seinem Vateran. Dieser meldet sich bei der Polizei.
Am Nachmittag dann löst der Eintrag zunächstbei Internet-Nutzern Diskussionen über seineEchtheit aus. Sie verweisen darauf, dass derForumsbeitrag nachträglich manipuliert undals gefälschter "Screen-Shot" in Umlauf gebrachtworden sei. Die Seite selbst ist gestern nichtmehr erreichbar. Am Abend dann der überraschendeWiderruf der Polizei: Der Chat-Eintrag könnedoch nicht eindeutig Tim K. zugeordnet werden,heißt es. Wie es zu der Panne kommen konnte,müsse noch geklärt werden.
Dagegen waren Hinweise auf unnatürlichen Umgangvon Tim K. mit Schusswaffen schon am Tattageindeutig. Mitschüler und Nachbarskinder berichtenin die Kameras, dass Tim sehr wohl habe aggressivsein können. Mit Genuss habe er mit so genanntenSoftair-Waffen herumgeballert - mit farbigenPlastikkügelchen als Munition. Eine Waffe,die eigentlich erst ab 18 Jahren erlaubt ist.Zwei Dutzend solcher Geräte soll Tim in seinemBesitz gehabt haben. Damit veranstaltetendie Jugendliche Turniere auf dem Spielplatzoder in der Gegend. Auch Nachbar Michael V.,heute 19, "spielte" mit Tim Softair. Bis Timbeim Laden der Waffen "überzogen" habe. Auchwollte er, dass die Jungs aus der Gegend mitihm Horrorvideos schauen. Doch die meistenwinkten ab. Auch mit scharfer Munition, sojedenfalls erinnert sich der NachbarsjungeDustin, habe man im Keller des ElternhausesSchießübungen gemacht. "Er traf immer insSchwarze."
"Völlig unauffällig" nannte ihn der Kultusminister.Still, zurückhaltend, durchaus freundlich.Die Einschätzung beruhte auf ersten Informationen.Tim K. betrieb Kraftsport, trainierte vorallem die Armmuskeln, spielte ganz gut Tischtennis.Doch der junge Mann war alles andere als gesund.Von April bis September 2008 wird Tim K. wegenDepressionen im Klinikum am Weißenhof in Weinsbergbehandelt. Die Therapie will er ambulant inWinnenden weiterführen. Doch in der dortigenKlinik meldet er sich nie zur Behandlung an.Die depressiven Schübe müssen seit vergangenemHerbst zugenommen haben. Den Eltern, so RalfMichelfelder von der Polizeidirektion Waiblingen,sei die Erkrankung bekannt gewesen. EinenZusammenhang mit der Aufbewahrung von Waffenim Haus hätten sie aber "nie hergestellt".
Tim lebte offenbar mindestens drei Leben:Das der Gewaltspiele, Horrorstreifen und Schießübungen,das in der Schule und im Tischtennisvereinund das Leben, das von Ängsten und gefühltenoder tatsächlichen Demütigungen geprägt war.