Spektakuläre Flucht aus der DDR Spektakuläre Flucht aus der DDR: "Ich fahre mit dem Panzerwagen durch die Mauer"

Berlin - „Dann haue ich ab. Ich fahre mit dem Panzerwagen durch die Mauer. Wollt Ihr mit?“, ruft Wolfgang E. einem Pärchen in Ostberlin zu. Es ist der 17. April 1963. Wolfgang E. weiß, dass ihm die Aufforderung mehrere Jahre Zuchthaus einbringen kann. Es ist ihm egal. Für ihn gibt es ohnehin keinen Weg zurück mehr.
Für den 19-Jährigen gibt es nur noch einen Ausweg – und der führt mit dem russischen Panzerwagen SPW-152 durch die Mauer, von den Soldaten auch Eisenschwein genannt.
6,55 Meter lang, 8,6 Tonnen schwer, 1,4 Zentimeter Panzerung. Der SPW-152 war für die Sowjetarmee entwickelt worden. Bei einer Truppenparade am 1. Mai 1963 sollte er erstmals in der DDR präsentiert werden.
Doch als E. den Wagen zwei Wochen zuvor in einer NVA-Kaserne entdeckt, hat er einen anderen Plan. „Damit kannst Du die Mauer durchbrechen“, denkt sich der 19-Jährige, der 1963 als ziviler Fahrer der NVA arbeitete. Kurz darauf stiehlt er den Wagen. Bis zur Mauer sind es nur ein paar Kilometer. Jene Mauer, deren Bau er keine zwei Jahre zuvor als NVA-Soldat mit abgesichert hat.
In der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 patrouilliert Wolfgang E. mit seinem Bataillon in Berlin. Unmittelbar zuvor hatte Erich Honecker, damals Sekretär für Sicherheitsfragen im Zentralkomitee, den Befehl zum Mauerbau gegeben. „Wir sollten aufpassen, dass nicht noch Leute abhauen“, berichtet Wolfgang E. fast 55 Jahre später.
Ida Siekmann ging als erste Mauertote in die Geschichte ein
Hätte er geschossen, wenn er jemanden hätte fliehen sehen? „Tja“, sagt der ehemalige Soldat. Dann schweigt er. Lange. Schließlich sagt er: „Die Gutmenschen würden diese Frage natürlich mit: Nein, auf keinen Fall!, beantworten. Ich kann das nicht so eindeutig.“ Wolfgang E., der später Lehrer in Niedersachsen wurde, weiß, dass seine Antwort verstören kann. Aber er ist ein ehrlicher Mann. Wenn seine Antworten nicht gefällig sind? Nicht sein Problem.
70 Tage nachdem der DDR-Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht verkündet hatte, dass niemand die Absicht habe, eine Mauer zu errichten, wurde der 24-jährige Günter Litfin am 24. August 1961 bei seinem Fluchtversuch an der Berliner Grenze mit einem Genickschuss getötet. Zwei Tage zuvor war bereits Ida Siekmann tödlich verunglückt, als sie vom dritten Stock ihrer Wohnung in den Westen springen wollte. Die 58-jährige Witwe ging als erste Mauertote in die Geschichte ein.
Weil die DDR viele Todesfälle vertuschte, weiß bis heute niemand genau, wie viele Menschen an der 166 Kilometer langen Berliner Mauer und der 1 378 Kilometer langen innerdeutschen Grenze starben. Historiker gehen derzeit von mindestens 1 012 Todesopfern aus. Auch Wolfgang E. wäre fast auf dieser Liste aufgetaucht.
Als er den Panzerwagen gegen die Mauer lenkt, zieht er sich eine Platzwunde an der Stirn zu. Er wischt sich das Blut aus den Augen und sieht, dass nur die Schnauze seines Fluchtwagens im Westen steht. Der größte Teil steckt im Osten fest. „Ich wollte über die halb eingestürzte Mauer klettern“, berichtet Wolfgang E..
Wolfgang E. bleibt angeschossen im Stacheldraht hängen
Doch er verheddert sich im Stacheldraht. Währenddessen rennt ein Grenzsoldat mit Kalaschnikow auf ihn zu. „Nicht schießen“, schreit der Flüchtende - dann knallt es. Wolfgang E. spürt einen Schlag im Rücken und ein Brennen in der Brust. Blutüberströmt zieht er sich auf die Motorhaube. Von hinten schießen die DDR-Grenzer weiter auf den Verwundeten. Wolfgang E. verliert viel Blut. „Ich schaffe das“, sagt er zu sich selbst, ohne viel Hoffnung.
Dann fallen wieder Schüsse. Doch sie klingen anders, und sie kommen aus dem Westen! Auf einem Beobachtungsposten auf der anderen Seite der Mauer standen zufällig zwei Westberliner Polizisten, als Wolfgang E. in die Mauer fuhr. Als einer der Beamten von einem Querschläger getroffen wird, erwidern sie das Feuer. Wolfgang E. sitzt jetzt im Kreuzfeuer. Als die DDR-Grenzer sich unter Beschuss zurückziehen, nimmt er seine letzte Kraft zusammen. Doch er bleibt erneut im Stacheldraht hängen.
Hier wäre er wohl verblutet, hätte nicht auf der Westberliner Seite ein Sparverein gerade das Ersparte in einer Kneipe versoffen. Die Zecher hören die Schüsse und laufen spontan auf die Straße. „Während Polizisten und Grenzer sich eine wilde Schießerei lieferten, haben sie eine Räuberleiter gemacht, mich aus dem Stacheldraht gepult und in den Westen gezogen. Sie haben ihr Leben riskiert, um meins zu retten“, erinnert Wolfgang E. sich. Damals stand er unter Schock. Anders kann er sich heute nicht erklären, warum er im Wirtshaus erstmal ein Bier und einen Korn bestellte.
Wolfgang E. sah 1990 seine Mutter das erste Mal wieder
In einem Kreuzberger Krankenhaus wurde er noch in derselben Nacht mit Dutzenden Stichen wieder zusammengeflickt. „Die Kugel verfehlte das Herz, streifte die Lunge nur. Sie ging hier rein, und da wieder raus.“ Wolfgang E. ist aus seinem Sessel aufgestanden und fasst sich erst an die rechte Seite oberhalb der Hüfte, dann auf die Brust.
Als er sich von der lebensrettenden Notoperation erholt hat, fliegt der Republikflüchtling zurück nach Düsseldorf, in die Stadt, die er elf Jahre zuvor gegen seinen Willen mit seiner Mutter in Richtung DDR verlassen hat. Als Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands wollte sie am Aufbau des real existierenden Sozialismus mitwirken - und der damals achtjährige Wolfgang musste mit. Doch als junger Mann lernte er den Staat zu hassen, den seine Mutter liebte.
1990 sah er seine Mutter, die bis zu ihrer Pensionierung bei der Stasi arbeitete, das erste Mal wieder. Der abtrünnige Sohn aber bereut nichts: „Ich glaube, sie hat mir nie verziehen, dass ich aus dem Land, an das sie so fest geglaubt hat, geflohen bin. Aber ich würde es jederzeit wieder machen.“ (mz)
