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Sexueller Missbrauch Sexueller Missbrauch: «Ich habe eine solche Wut im Bauch»

Von FRANK NORDHAUSEN 12.02.2010, 13:44

Berlin/MZ. - Aber er fühlte, dass etwas vorging, das nicht in Ordnung war. Dass da jemand in sein Innerstes eingriff und nach Dingen grub, die ihn nichts angingen. "Ich bin rot geworden, obwohl ich allein im Zimmer war. Aber ich habe alles beantwortet. Denn ich wollte unbedingt dazugehören", sagt der heute 47-jährige Mann.

Ansgar B. erinnert sich an jenen Tag im Sommer 1975, als wenn es gestern gewesen wäre. Und auch an die Ohnmacht, die er fühlte. "Ich hatte niemanden, mit dem ich darüber reden konnte. Meine Eltern hätten mir nicht geglaubt, die waren so katholisch, für die konnte das Canisius-Kolleg nichts Unrechtes tun. Und meine Mitschüler dachten wie ich, dass es zum Erwachsenwerden dazugehört."

In jenem Sommer hat Pater Peter R. zwölf Jungen in der MC-Burg versammelt, um sie sexuell aufzuklären. MC-Burg nennen sie das einstöckige Nebengebäude des katholischen Canisius-Kollegs in Berlin-Tiergarten. Sexualkunde haben die 13- bis 14-jährigen Jungen am Sonnabend absolviert, "sozusagen unsere Reifeprüfung", sagt Ansgar B. Wie die anderen will er reif und erwachsen sein, sie sind Anwärter auf das Amt der Gruppenleiter in der MC. Nach dem Wochenende sollen sie Jüngere anleiten. "Wir haben uns darauf gefreut. Wir würden zur Elite der Elite der Eliteschule gehören."

Der Jesuitenpater Peter R., 33 Jahre alt, selbst ehemaliger Canisius-Schüler, ist der geistliche Leiter der MC. Er hat zwei Jahre zuvor sein Theologiestudium beendet und ist Religionslehrer am Canisius-Kolleg geworden. Der Geistliche, der nie die schwarze Kutte der Jesuiten anlegt, gilt als progressiv. Er trägt lange Koteletten, eine getönte Brille und Hosen mit leichtem Schlag. Er wirkt zwar ungepflegt, ist aber einer jener Patres, die mit den Jugendlichen in deren Sprache reden. Die den neuen pädagogischen Geist der 68er zu atmen scheinen. Der Pater hat Kondome mitgebracht und Biologiebücher. Er hat erklärt, wie alles funktioniert, der Sex, die Fortpflanzung, die Geschlechtsorgane. Übernachtet haben die Schüler in der MC-Burg auf Matratzen. Am Sonntagmorgen hat Pater R. dann jedem Jungen den dicken Briefumschlag mit Fragebögen und Fotos in die Hand gedrückt. Jeder kommt in ein Einzelzimmer, soll sich auf die Aufgaben konzentrieren. Man kann Antworten ankreuzen oder muss kleine Geschichten aufschreiben. Alle Fragen drehen sich um Sex. "Wie oft masturbierst du in der Woche?" Oder: "Welche Gedanken hast du dabei?" Dann soll man die Fotos betrachten. Ein Bild zeigt ein etwa 16-jähriges nacktes Mädchen, ein anderes zwei Jungen, die nackt auf einem Bett liegen und sich an den Penis greifen. Die Aufgabe lautet: "Schreib auf, was dir dazu einfällt." Über das Mädchen notiert Ansgar B., dass sie ihn errege. Über die Jungen bemerkt er: "Das finde ich abstoßend."

Nach etwa einer Stunde ist er fertig. Nacheinander werden die Jungen nun zu Pater R. in dessen Zimmer gerufen, das sie in der MC nur "Kabuff" nennen. "Dann quetschte er mich aus. Über das Onanieren, ob ich Mädchen angucke und Ähnliches. Mir war das total unangenehm. Ich musste ihm versprechen, mir ein halbes Jahr keinen runterzuholen." Am Schluss macht Pater R. dem Jungen das Angebot: "Wenn du es gar nicht aushältst, kannst du zu mir kommen und hier im Zimmer masturbieren." Es fällt Ansgar B. sichtlich schwer, darüber zu reden. Er schlägt die Augen nieder, lacht unmotiviert. Der gestandene Mann scheint in diesem Moment wieder der Junge zu werden, der er damals war.

Dann erzählt Ansgar B., wie die Gruppenleiteranwärter einmal im Monat zu Pater R. ins Kabuff mussten, um ihm dort ihre sexuellen Fantasien zu schildern - ihr Innerstes nach außen zu kehren. "Wenn einer gerufen wurde, haben wir uns vielsagend angeguckt. Das arme Schwein, hieß es dann. Wir haben gewartet, wie lange er drinbleiben musste. Blieb einer lange, war klar, dass er onanieren musste." Ansgar B. fängt an, leicht zu zittern. Er ist jetzt den Tränen nahe. "Ich bin ganz aufgewühlt, als wäre ich nicht ein Polizeibeamter, der täglich mit viel Schlimmerem zu tun hat. Ich habe eine solche Wut im Bauch."

Zum Gespräch im Dachrestaurant des früheren West-Berliner Kaufhauses Wertheim am Kurfürstendamm ist seine Frau mitgekommen. Sie ist ein wenig jünger als er, blond, selbstbewusst mit blassblauen Augen hinter einer rahmenlosen Brille. Mit Augen, die manchmal sehr traurig auf ihren Mann blicken. Jetzt nimmt sie seinen Arm, hält ihn ganz fest. Sie sagt: "Ansgar hat mir schon früher mal davon erzählt, dann war es gut. Aber seit die Missbräuche in der Presse standen, sprechen wir zu Hause über kaum etwas anderes mehr." Ansgar B. nickt. Er sagt mit belegter Stimme: "Wenn man meine Geschichte hört, wird man denken, dem ist ja gar nichts Schlimmes passiert. Aber innerlich, da ist so viel passiert, dass es mich jetzt nach dreißig Jahren noch schmerzt. Man hat versucht, immer wieder in meine Intimsphäre einzudringen. Das ist Missbrauch."

Für den Berliner Traumatherapeuten Norbert Kröger ist die Geschichte von Ansgar B. nichts Ungewöhnliches. "Es klingt für mich wie eine verzögerte Posttraumatische Belastungsstörung", sagt er. "Gerade Menschen aus dieser Altersgruppe haben solche Ereignisse oft erfolgreich verdrängt. Das kann sehr gut funktionieren - aber jetzt, wo der Missbrauch ein öffentliches Thema ist und der Mann merkt, dass er zu einer Opfergemeinschaft gehört, kommt alles wieder hervor." Kröger therapiert zurzeit auch ein Opfer sexuellen Missbrauchs durch einen Priester. "Die jahrelang blockierten Gefühle können sich in Zittern und Herzbeschwerden äußern", sagt er. Eine Psychotraumatherapie könne dabei schnell helfen. Die Kirche spreche von Verzeihen und Versöhnen, aber das könne höchstens der zweite Schritt sein.

Ansgar B. hat von all dem bisher nur seiner Frau erzählt, weil er glaubte, mit seinen Gefühlen allein zu sein. "Die Übergriffe fanden nie statt, wenn mehrere Jungen dabei waren. Deshalb gibt es keine Zeugen. Die Täter sind sehr geschickt vorgegangen. Und heute ist alles verjährt."

Ansgar B. ist überzeugt, dass hinter den Missbräuchen System steckte. Dass die Patres sich absprachen; "ganz sicher bei ihren sadistischen Praktiken". Gezüchtigt hätten sie immer nur Schwache, nie Jungs, die sich wehren konnten.

Ein System von Belohnungen, Strafen und Beichten habe den Tätern die Kontrolle und Überwachung der Gedanken ihrer Schutzbefohlenen erlaubt. Die Vereinzelung und das Wissen über die geheimen Fantasien der Schüler habe sie geschützt. So sei eine verschworene Gemeinschaft entstanden, aneinander gekettet durch ihr dunkles Geheimnis.