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Richard David Precht Richard David Precht: «In Zeiten des Umbruchs»

19.08.2012, 18:01
Der Philosoph Richard David Precht
Der Philosoph Richard David Precht dpa Lizenz

Halle (Saale)/MZ. - Die erste Frage geht nach den Elefantenrüsselfischen, über die Precht anspielungsreich verlauten lässt, sie seien sehr sozial und hätten im Verhältnis zum Körper ein besonders großes Gehirn. Das Weibchen macht Precht Sorgen. "Es ist magersüchtig, ich muss es ordentlich päppeln." Die Fische, sagt Precht, reagieren schon auf ihn, wenn er den Kühlschrank öffnet, um die Futtertabletten herauszuholen. Am Esstisch sprechen wir über das Internet und die neuen Formen der Kommunikation. Als Philosoph kann sich Precht dafür rechtschaffen begeistern, als Vater übt er Abstinenz: Handy und Computerspiele hält er von seinem neunjährigen Sohn fern, sagt er, weil sie die Entfaltung der Phantasie mindern.

Mit Richard David Precht sprach Joachim Frank.

Herr Precht, für Ihre neue Gesprächsreihe im ZDF haben Sie die Latte sehr hoch gelegt, indem Sie Sokrates einmal als Erfinder des Talks bezeichnet haben. Was werden Sie den Zuschauern bieten?

Precht: Nicht den üblichen TV-Smalltalk, der Ihnen nach 30 Sekunden das Wort abschneidet. Dieses Beschleunigungsfernsehen hat aus meiner Sicht keine Zukunft. Zumindest für einige Formate ist die Rückkehr zur Konzentration sicher ein Gewinn.

Sie kritisieren Sendungen, in denen Sie selbst mit am häufigsten zu Gast sind?

Precht: Zu Gast! Nicht in Verantwortung! Aber es stimmt: Ich beteilige mich an Talkshows, weil sie mir die Möglichkeit geben, vor einigen Millionen Menschen zu sagen, was aus meiner Sicht relevant ist. Das ist unbestreitbar ein Privileg. Warum sollte ich es nicht nutzen? Ich habe auch nichts gegen Talkshows. Allerdings fände ich es besser, wenn zu den Themen tatsächlich mehr Experten eingeladen werden würden - und nicht immer die gleichen Fachleute für alles. Nur sind die Quoten paradoxerweise dann am höchsten, wenn dort die Leute sitzen, die eh jeder kennt.

Sie folgen auf das "Philosophische Quartett" von Peter Sloterdijk, der Sie in einem Zeitungsbeitrag mit dem Klassik-Weichspüler André Rieu verglichen hat. Biestigkeiten unter konkurrierenden Kollegen?

Precht: Also in Sloterdijks Sendung habe mich sehr wohl gefühlt. Er hat mich ausgesprochen gut behandelt. Der Rieu-Vergleich war das einzig Negative über mich. Daran hat mich eigentlich nur geärgert, dass ihm als großem Sprachkünstler nichts Originelleres eingefallen ist.

Vom philosophischen Elfenbeinturm aus stehen Sie beide auf der anderen Seite?

Precht: Ja. Aber nun ist diese Grenzlinie auch nicht wirklich umkämpft. Ich bin mit vielen Philosophieprofessoren befreundet, mit einigen sogar eng. Acht universitäre Fachleute haben mein Buch "Die Kunst, kein Egoist zu sein" gegengelesen, und in meiner Lehrtätigkeit als Professor erlebe ich nicht die Spur von Ablehnung, im Gegenteil. Kurz und gut: Meine Kritiker sitzen nicht in den Universitäten, sondern allenfalls in den Feuilletons.

Sie legen schon Wert auf die Anerkennung Ihrer Qualifikation. Liegt das daran, dass Sie als einer gelten, der zu allem etwas Gescheites von sich geben kann?

Precht: Mich wundert dieses Image. Mein Talkshow-Rekord liegt bei fünf Sendungen in einem Jahr. Das ist nicht so viel.

Trotzdem sollen Sie es auf bis zu 100 öffentliche Auftritte jährlich bringen. Stimmt das?

Precht: Da ist aber auch jede Benefiz-Veranstaltung drin, von denen ich tatsächlich eine ganze Reihe mache. Thematisch beschränke ich mich sehr wohl. Ich sage längst nicht zu allem etwas.

Warum haben Sie sich eigentlich so über das Loblied Ihrer Kollegin Thea Dorn auf die "großen alten Männer" aufgeregt und die Klage, es gebe keine Geistesheroen vom Schlage Grass, Walser, Enzensberger mehr?

Precht: Ich finde es schon mal seltsam, dass in Deutschland für moralisch-intellektuelle Fragen einige wenige Großschriftsteller mitsamt ihrem Großkritiker, Marcel Reich-Ranicki, quasi alleinzuständig geworden sind. Historisch ist das verständlich, weil die anderen Eliten durch die NS-Verstrickung desavouiert waren. Da kamen dann nach 1945 einige junge Kahlschlag-Autoren, die - vermeintlich - "sauber" waren, und traten als die Robespierres der Gesellschaft auf. Die Gruppe 47 hat sich so breitgemacht, dass neben und nach ihr kaum noch jemand hochkommen konnte. Jüngere Autoren - wie etwa die Pop-Literaten - haben sich dann von vornherein für unzuständig in moralischen Fragen erklärt. Damit haben sie sich von diesem ganzen Literatur-Syndikat um Grass, Jens, Walser, Lenz und anderen abgesetzt, das einer ganze Generation den Erfolg blockiert hat. Darum finde ich das andächtig-vollmundige Lob auf diese Herren kitschig, wirklich kitschig!

Geht Ihnen die Verehrung für die Alten ab?

Precht: Ich halte diese in Ehrfurcht erstarrte Haltung für ein Übergangsphänomen. Es gibt ja schon heute gar nicht mehr so viele Großweise. Helmut Schmidt gilt als einer, Richard von Weizsäcker, vielleicht noch Heiner Geißler und Hildegard Hamm-Brücher. Aber dann hört es doch auch schon auf. Gilt Theo Waigel als Weiser? Oder Edmund Stoiber - der große Weise aus Wolfratshausen? Na also, sehen Sie!

Von wo nach wo verläuft der "Übergang", von dem Sie sprechen?

Precht: Wir leben in einer Zeit des Umbruchs, der - im Gegensatz zu den meisten Revolutionen - nicht aus materieller Not geboren, sondern Folge einer technischen Erneuerung ist. Das Internet und die sozialen Netzwerke züchten Menschen, die ihre Meinung sagen. Und auch unsere Erziehung bringt selbstbewusste Kinder hervor. Diese Möglichkeit zur Selbstbestimmung wollen sie als Jugendliche und Erwachsene nicht mehr abgeben. Das ist die Grundintuition der Piraten: Wir brauchen keine repräsentative Demokratie, denn was ich zu sagen habe, will ich selber sagen. Im Kern ist das eine Systemkrise, zumal unsere Demokratie immer mehr verkrustet.

Verstehen Sie sich als Krustenbrecher?

Precht: Das muss man nicht groß aktiv betreiben. Das kommt von ganz allein, weil die jungen Leute eine ganz andere Lebensvorstellung haben. Die technische Entwicklung unterstützt das maßgeblich. Jugendliches Selbstbewusstsein schärft sich ja an der Frage: Was kann ich, was meine Eltern nicht können? Die 68er-Generation konnte auf die Frage, was sie ihren Eltern voraus habe, sagen: "Wir waren keine Nazis, und wir hören die coolere Musik." Aber mehr war da nicht. Der Umgang mit dem Internet - als völlig neue Kulturtechnik - ist da schon von anderem Kaliber. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass die Piratenpartei aus dem Netz kommt.

Politische Debatten im Internet tendieren zu Verunglimpfungen. Das als neue Form politischer Teilhabe hochzujubeln, fällt schwer.

Precht: Das stimmt. Der Shitstorm ist die Guillotine des 21. Jahrhunderts. Andererseits werden die Menschen ein dickeres Fell bekommen und den heiligen Ernst gegenüber allem, was geschrieben steht, verlieren. Wenn Gerüchte im Internet allgegenwärtig sind, werden sie belanglos. Andererseits gewinnt die Authentizität der Quelle an Gewicht. Schon heute unterscheiden wir doch zwischen dem, was in der Zeitung und was im Internet steht.

Was hat die Philosophie mit all diesen Veränderungen zu tun?

Precht: Wenn Sie sich die Unis anschauen, werden die Fakultäten von zwei großen Strömungen beherrscht: der analytischen Philosophie und der Philosophiegeschichte. Beides soll es und muss es geben. Das Problem ist nur: Die analytische Philosophie hat den Gegenstandsbezug verloren, und die historische Philosophie den Gegenwartsbezug: Altbausanierung im Bereich des Geistes! Für die Probleme der Gegenwart - die Zukunft der Finanzmärkte und vieles andere - trägt solche Philosophie oft nicht das Geringste bei. Welcher Philosoph fällt Ihnen ein, der über moralische Fragen der Gegenwart und Zukunft nachdenkt und nicht bloß darüber, wie Moralsysteme sich begründen?

Hans Jonas mit seinem "Prinzip Verantwortung". Und Jürgen Habermas natürlich.

Precht: Zwei Namen. Das ist nicht viel! Und Jonas ist auch schon seit zehn Jahren tot. Es gibt natürlich noch einige andere, deren Namen die Öffentlichkeit aber kaum oder gar nicht kennt. Vielleicht noch Julian Nida-Rümelin. Wir leisten uns -zig philosophische Lehrstühle in Deutschland, ohne von deren Inhabern irgendeinen Input für die Gesellschaft zu erwarten. Das ist eine skurrile Situation. Hinzu kommt eine Konditionierung auf unverständliche Sprache. Wenn Sie in meine Dissertation gucken - das können Sie eigentlich gar nicht lesen. Aber gerade diese Form ist prämiert worden. Auch da stimmt etwas nicht.

In Baden-Württemberg gibt es in der Landesregierung den Posten eines "Staatsrats" für Ethik. Wäre das kein Job für Sie?

Precht: Ich hab's nicht so mit den Räten. Die hinken immer hinterher. Wichtig wäre es, philosophisches Denken frühzeitig in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Alle Hirnforscher müssten Scheine in Philosophie machen, damit sie nicht erst Innovationen schaffen, die dann an irgendwelche Ethikräte zur Begutachtung überwiesen werden müssen.

Und was ist mit der Politik?

Precht: Für Ethik haben Politiker eigentlich keine Zeit.

Aber Sie geben ihnen doch ständig öffentlich Ratschläge.

Precht: Gegenwärtig sind Sie, wenn Sie als Philosoph mit Politikern reden, hilflos. Nicht weil Sie kein Gehör fänden. Sondern weil es keinen Zusammenhang gibt zwischen dem, was Sie sagen, und dem, was Politiker tun. Es nützt Angela Merkel in der Frage des Euro-Rettungsschirms nichts, wenn Sie ihr mit Debatten über die Moral von Solidarität und europäische Wertegemeinschaft kommen. Das ist alles völlig egal. Es entscheiden einzig die Ökonomen. Nicht, dass ich das gut fände. Aber völliger Quatsch wäre es, am Schluss noch den Philosophen zu besuchen und ihn zu fragen: Wie finden Sie denn das jetzt?

Friedrich der Große umgab sich mit prominenten Philosophen. Wie stünde Ihnen die Rolle als Merkels Voltaire?

Precht: Schlecht. Weil Voltaire für Friedrich den Großen die Funktion hatte, ihn im Ausland als Geistesgröße dastehen zu lassen. Außerdem ist die Vorstellung absurd, man könnte sich mit der Kanzlerin nach einem 16-Stunden-Tag auf einen Rotwein zusammensetzen und alles noch mal in Ruhe durchdenken. Dafür haben Politiker dieses Kalibers keine Kapazitäten. Ich hätte nicht die geringste Einflussmöglichkeit und wäre bloß ein Feigenblatt. Warum also?

Sie fordern immer wieder ehrenamtliches Engagement und Solidarität. Schlagen Sie damit die Brücke zum alten Marx?

Precht: Durchaus. Wir haben in unseren Debatten leider viele Freund-Feind-Linien, die keine sind. Zum Beispiel stört es mich an den Linken, dass sie die Lösungen immer vom Staat erwarten. Natürlich erwarte auch ich, dass der Staat die sozialen Sicherungssysteme garantiert. Aber ich möchte, dass die sozialen Probleme in diesem Land durch persönliches Engagement mitgelöst werden. Weil Moral eine Frage von Personen ist, nicht von Gesetzen.

Und in 30 Jahren soll dann einmal Ihr Name in den Handbüchern der Philosophie- und Gesellschaftsgeschichte stehen?

Precht: Das ist mir so was von egal. Ich bin zu jung für eine Generation, die sich Gedanken über ihren Nachruhm macht. Erstens weil Nachruhm ja nichts anderes ist als die nicht-religiöse Variante der Unsterblichkeit. Früher, als die Menschen oft nicht älter als 30 oder 40 Jahre alt wurden, haben sie sehr viel Wert auf die Unsterblichkeit gelegt. Bald werden wir alle 100 - da ist mehr Zeit, sich mit dem Diesseits zu befassen. Man wird in Zukunft keine historische Rolle mehr spielen können, weil es keine Historie mehr geben wird. Eine Gesellschaft, die sich so sehr in die Breite vernetzt, tauscht ihr Personal schnell aus und archiviert es nicht mehr. Die Zeiten, in denen Brechts Briefwechsel x-mal herausgegeben und kritisch ediert wird, sind vorbei. So etwas wird keinem lebenden Schriftsteller unter 50 mehr widerfahren.

Die Auflösung ins Vergessen - eine schreckliche Vorstellung! Hilft dagegen am Ende nicht doch nur eine Renaissance des religiösen Glaubens an die Unsterblichkeit?

Precht: Ich glaube, die Menschen heute wollen 100 Jahre lang so glücklich und erfüllt leben, dass sie dann auch bereit sind, loszulassen. Außerdem bleibt uns ja allen eine Möglichkeit, unsterblich zu sein. Nämlich durch unsere Kinder. Der Biologe Richard Dawkins hat mal formuliert, "wir halten 50 Prozent des genetischen Aktienbesitzes an unseren Kindern". Man könnte auch sagen, unsere Kinder sind die einzigen Garanten nicht nur unserer biologischen, sondern auch unserer biografischen Unsterblichkeit. Und die ist - ehrlich gesagt - sehr, sehr viel wichtiger als diese ganze Geschichtsbuch-Dimension.

Und auf Ihrem Grabstein wird dann stehen . . .?

Precht: . . . Er ging nicht gern, aber zufrieden.