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Nanotechnologie Nanotechnologie: Kleine Teilchen, große Fragen

Von MICHAEL AUST 02.10.2011, 09:55

Halle (Saale)/MZ. - Kürzlich in einem halleschen Café. Ein Gast verschüttet sein Getränk großflächig über ein Sofa. Der Kellner kommt und wischt die Saftspritzer mit einem trockenen Lappen weg - es bleiben tatsächlich keine Flecken. "Wir haben einen ultramodernen Sofabezug", erklärt er. Der Effekt sei derselbe wie bei der Lotusblume. "Flüssigkeiten perlen einfach ab. Eine tolle Erfindung."

Vermutlich waren in dem Sitzbezug Nanopartikel verarbeitet, unvorstellbar winzige Teilchen, bis zu 50 000 mal kleiner als der Durchmesser eines Haars. Die Winzlinge haben erstaunliche Wirkungen. Die bekannteste ist besagter "Lotus-Effekt": Auf den Blättern der Lotusblume sorgen feinste Nanostrukturen dafür, dass Wasser einfach abperlt und Schmutzpartikel nur schwer haften bleiben.

Die Nanotechnologie, abgeleitet vom griechischen Wort für Zwerg, halten viele für eine der Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts. Seit es Forschern erstmals gelang, die Natur beim Einsatz kleinster Teilchen zu imitieren, wird die Querschnittswissenschaft aus Physik, Chemie und Elektrotechnik bei vielen Alltagsproblemen herangezogen. Bei ihren Innovationen macht sich die Industrie zunutze, dass Nanoteilchen ganz andere physikalisch-chemische Eigenschaften haben als ihre größeren Verwandten. Zum Beispiel das Nanosilber: Studien zeigen, dass das Mini-Material die keimtötende Wirkung von Silber in gesteigertem Maß besitzt, weshalb es oft in der Medizin eingesetzt wird. Den Effekt nutzen auch Hersteller von T-Shirts und Tupperdosen. Andere Nanostoffe machen Autolack kratzfest und Sonnencremes sicherer beim UV-Schutz.

"Anlass zur Besorgnis"

Für Physik-Laien ist die Arbeit mit den Winzlingen nur schwer vorstellbar. Ein Nanometer ist der milliardste Teil eines Meters. Zum Vergleich: Ein DNS-Strang ist 2,5 Nanometer, ein rotes Blutkörperchen 7 000 Nanometer breit. Ein Partikel von der Größe eines Nanometers verhält sich zu einem Fußball wie dieser zur Erdkugel.

Sehen kann man die Zwergen-Teilchen erst seit der Erfindung des Rastertunnelmikroskops. Für dessen Erfindung wurden der Deutsche Gerd Binning und der Schweizer Heinrich Rohrer 1986 mit dem Nobelpreis für Physik geehrt. Seither hat das Zauberwort "Nano" weltweit eine Goldgräberstimmung unter Herstellern ausgelöst, die ihre Produkte mit den neuen Materialen optimieren wollen.

Eine Entwicklung, über die Verbraucherschützer nicht gerade jubeln. Denn die winzigen Partikel haben sich in den vergangenen Jahren still und heimlich in die Haushalte geschlichen, ohne dass klar wäre, welche Nebenwirkungen sie haben können. "Es gibt derzeit einige Produkte und Verwendungen von Nanomaterialien, bei denen Anlass zur Besorgnis besteht", heißt es im Amtsdeutsch eines 600-seitigen Berichts, den der Umweltsachverständigenrat der Bundesregierung Anfang September vorlegte. "Dazu gehören die Verwendung von Nanomaterialien in Sprays und die zunehmende Vermarktung von Verbraucherprodukten, die Silber-Nanopartikel enthalten."

Die Sachverständigen bemängeln, dass zahlreiche Forschungs- und Gesetzeslücken bestünden, zum Beispiel im Chemikalienrecht, das bislang keinen eigenen Nano-Paragrafen hat. "Diese Wissenslücken sind ein Problem, weil schon so viele Produkte mit Nanomaterial auf dem Markt sind", sagt Jurek Vengels vom Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND). Nanoteilchen stecken heute schon in mehr als 600 Alltagsprodukten, schätzt der Experte. "Das reicht vom angeblich geruchshemmenden Kopfkissen mit Nanosilber über den antibakteriell beschichteten Kühlschrank bis zur Sonnencreme, die es praktisch ohne Nanoteilchen kaum gibt." Weil nicht immer mit dem Begriff "Nano" geworben werde, wüssten viele Verbraucher gar nicht, wo die Zwergteile überall drinstecken. "Für Verbraucher ist es nicht ersichtlich, ob Produkte Nanomaterialien enthalten", erklärt auch das Bundesministerium für Verbraucherschutz auf seiner Internetseite.

In der US-amerikanischen Politik wird seit Jahren über die Regulierung von Produkten mit Nanotechnologie diskutiert. Es gibt eine globale Debatte, die langsam auch in Europa Wirkung zeigt: Ab 2013 müssen Kosmetika mit Nanoteilchen laut EU-Beschluss als solche gekennzeichnet werden. Für Lebensmittel, in denen die Winzlinge stecken, gilt die Kennzeichnungspflicht ab 2014.

Image verschlechtert sich

"Fakt ist, dass bei vielen Nano-Produkten bis heute völlig unklar ist, ob sie gesundheitsgefährlich sind oder nicht", bewertet Vengels den aktuellen Wissensstand. Im Tierversuch sei etwa nachgewiesen worden, dass Nano-Titandioxid von schwangeren Mäusen an ihren Nachwuchs weitergegeben wird und bei diesem Schädigungen des Hirns und des Nervensystems verursacht. In anderen Tierversuchen habe sich gezeigt, dass Titandioxid-Teilchen, aufgenommen über die Atemwege, Lungenkrebs auslöst - allerdings erst in sehr hoher Dosierung.

Ob und inwieweit die Ergebnisse auf den Menschen übertragbar sind, stellen manche Forscher in Zweifel. "Uns geht es nicht darum, die Technologie zu verteufeln, sondern die Spreu vom Weizen zu trennen", sagt Vengels. Deshalb solle man Warnhinweise aus Tierversuchen zum Anlass für neue Studien nehmen, statt immer neue Produkte herauszubringen.

Noch 2007 versprachen sich zwei Drittel der Deutschen eher Nutzen als Risiken von der Nanotechnologie. Es gibt Anzeichen, dass sich diese Stimmung gerade wandelt.

Einige Firmen sehen ihre eigenen Nano-Produkte inzwischen kritisch. "Wir setzen die Technologie auf vielfachen Kundenwunsch nicht mehr ein", sagt Josef Stufler, Geschäftsführer von eWall. Das Unternehmen verkauft Handytaschen, deren Beschichtung angeblich Mobilfunk-Strahlung abschirmt. "Vor zwei Jahren riefen viele Kunden an und sagten: Diese Partikel sind kleiner als Feinstaub - und keiner weiß, wie sie wirken." Seither stelle man die Taschen nur noch ohne Nano-Streifen her.