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Nachtleben Nachtleben: Drei Tage wach

Von TINO HANEKAMP 09.01.2012, 12:09

Halle (Saale)/MZ. - Sonntag um kurz vor elf Uhr abends steigt die Amtsrichterin Jorinde Berg (alle hier genannten Personen gibt es, ihre Namen sind geändert), 41, am Berliner Hauptbahnhof in den letzten Zug nach Hamburg. In den vergangenen 24 Stunden hat sie nicht geschlafen, viel getanzt, geredet und gelacht, mit einem jungen Spanier auf dem Klo des Technoclubs Berghain gevögelt und ein Gramm Kokain, zwei Ecstasy-Pillen, Marihuana, Alkohol und Unmengen Nikotin in ihre Blutbahn befördert. Sie ist erschöpft und glücklich. Morgen wird sie erst gegen Mittag ins Büro gehen, früh Feierabend machen und dafür am Dienstag von neun bis neun das Liegengebliebene abarbeiten. Ihre Arbeitszeiten sind gleitend. "Wenn ich morgen Verhandlungen hätte, wäre ich nicht ausgegangen", sagt die Richterin. "Aber einmal im Monat brauche ich diese Parallelwelt. Das ist wie ein Kurzurlaub vom Alltag."

Etwa die Hälfte aller Amtsrichter in deutschen Großstädten ist unter vierzig, sagt Jorinde Berg. Viele von ihnen waren Studenten, als vor zwanzig Jahren Rave und Techno zur dominierenden Clubkultur wurden. Natürlich werden nur die wenigsten von ihnen ihr Wochenende verbringen wie Jorinde Berg. Trotzdem ist die Hamburgerin kein Einzelfall, sondern ein Beispiel für eine moderne Kultur des Feierns, die längst die Mitte der Gesellschaft erreicht hat.

Montagmorgens, wenn im Berliner Technoclub Berghain die Party zu Ende ist, finden die Reinigungskräfte Visitenkarten aus allen möglichen Berufsbereichen. Und wer sich in einer Samstagnacht in einen der anderen Technoclubs der Republik begibt, wird erstaunt sein, wie viele der Gäste nicht dem Klischee vom Publikum eines Technoclub entsprechen. Das sind keine zugedröhnten Raver, sondern normale Menschen, die auch in ihrem Leben als Chefsekretärin, Steuerberater oder Verkäufer ab und zu so feiern wollen wie zu Zeiten, als sie noch zwanzig waren.

Das Nachtleben heute beginnt nach Mitternacht und endet um acht Uhr morgens. Die Tanzmusik ist ein nie endender Beat. Drogen werden konsumiert wie Bier auf dem Cannstatter Wasn. Das Publikum besteht aus jungen Vergnügungssüchtigen und Erwachsenen, die Eltern sein könnten oder sind. Es geht um Extase und Verzauberung, ums Loslassen und Abtauchen. Es geht um Alles und Nichts. Ja, Drogen sind illegal. Nein, sie sollen hier nicht verherrlicht werden. Drogen sind gefährlich und schädlich. Man muss auch keinen schnellen Sex in der Klokabine einer Disco haben, um auf andere Gedanken zu kommen. Ja, Asketen sind keine schlechten Menschen. Sie sind aber auch nicht zwangsläufig die besseren.

Es geht darum, wie und warum Menschen feiern und was das mit der Zeit zu tun hat, in der wir leben. Nehmen wir Marc Seidenstücker, einen 37-jährigen Kaufmann. Seidenstücker arbeitet zwölf Stunden am Tag, fünf Tage die Woche, sein Handy ist immer an, täglich bekommt er achtzig Emails. Er ist mit seiner Freundin vor Kurzem in eine Eigentumswohnung gezogen, Kinder sind geplant. Und warum genau geht dieser Mann zwei Mal im Monat bis zum Morgengrauen tanzen? "Weil es guttut, auch mal was total Sinnloses zu machen."

Er könnte genauso gut zehn Stunden Rennrad fahren - das führt auch zu nichts und man ist an der frischen Luft. Marc lacht. "Im Club verwischen die Grenzen. In einer guten Nacht ist es egal, es zählt nur der Augenblick, das Gefühl." Geht das nicht ohne Drogen? Marc zuckt die Achseln. "Kann sein. Aber ich will verschwinden, meinen Körper verlassen, für ein paar Stunden ein anderer sein."

Diese Wirklichkeitsflucht mittels Rausch ist so alt wie der Mensch. Schon die Neandertaler kauten auf Wurzeln herum, um in ihrer kalten Höhle ein bisschen auf Reisen zu gehen. Es ist egal, ob wir auf dem Oktoberfest sind, auf die Alm wandern oder sonntags auf Ausflugsfahrt gehen - jeder nimmt auf seine Weise Urlaub von der Realität.

Doch es scheint, dass die Mittel zum Exzess noch nie so ausgefeilt waren wie im Nachtleben der Großstadt heute. Und das hat nicht nur mit der problemlosen Verfügbarkeit jener Mittel zu tun, sondern auch mit einem gesteigerten Verlangen nach Auflösung. Das Nachtleben atmet ein Bedürfnis danach, Situationen zu erleben, die einem die Realität nicht bieten kann.

Wir müssen immerzu funktionieren. Wir müssen gesund sein, jung, gebildet und schön. Wir sind ständig erreichbar. Wir sind süchtig nach Information und Kommunikation. Wir müssen Bestleistungen bringen, weil wir sonst ersetzt werden. Die Grenzen zwischen Beruf und Privatem sind längst verwischt. Wir haben alle Möglichkeiten, aber wissen nicht, was wir zuerst machen sollen. Wir verlieren uns im Tal der Optionen.

Die Welt um uns dreht sich immer schneller. Es ist die Lebenswelt des modernen urbanen Menschen zwischen zwanzig und fünfzig. Für einige von ihnen ist der Club ein Zufluchtsort, eine Kathedrale, ein Tempel für Traumlandschaften und Transzendenz.

"Das beste Beispiel für einen solchen Tempel der Traumlandschaften ist das Berliner Berghain - einTechnoclub in einem ehemaligen Heizwerk nahe des Ostbahnhofs. Das Berghain ist der Technoclub schlechthin. Einlass wird nur jenen gewährt, die bei den Türstehern den Eindruck erwecken, entspannt und exzessiv feiern zu wollen. Der Sound, das Licht, die ganze Inszenierung ist darauf ausgerichtet, den Besuchern eine fremde Welt zu schaffen, die mit der da draußen nichts zu tun hat; eine "Welt voller Rausch, Hemmungslosigkeit und Ekstase", wie Tobias Rapp in "Lost and Sound" schreibt.

Man kann und soll sich hier verlieren. Manche kommen Samstagnacht und gehen Montagmorgen. Drogen werden benutzt - je nach der Wirkung, die gerade erwünscht ist. Und die Richterin aus Hamburg fällt hier ebenso wenig auf wie der hippe Twen aus Jerusalem oder der Fünfzigjährige mit Hemd und Hosenträgern.

Da steht eine Dame an der Bar, sie hat Glitzer im Gesicht und trägt Jeans, T-Shirt und Turnschuhe. Fragen wir sie doch mal, was sie hier will. "Ich suche nicht den Exzess, ich suche Momente", sagt Doro, 29, Chefin einer Cateringagentur. "Ich freue mich über die Rückkehr in kindliche Gefühlsmuster." Und warum das alles? "Warum nicht das nutzen, was wir erfunden haben, um uns besser zu fühlen? Ich liebe es, wenn die Zeit sich gleichzeitig verschnellert, verlangsamt und rückwärts läuft. Aber ich liebe auch den Moment am Morgen, wenn die Welt sich wieder normalisiert ".

Der Berliner Senat lässt die Clubs gewähren. Jeder weiß, dass hier Drogen konsumiert werden, auch wenn die Türsteher des Berghain jeden Besucher filzen. Aber es gibt keine Razzien, keine Sperrstunden, keine schikanösen Auflagen. Denn es gibt selten Ärger und die Clubkultur bringt Geld, Arbeitsplätze und Touristen - Easyjetter werden jene genannt, die nur zum Tanzen in die Stadt kommen.

Einer der Gründe, warum so viele junge Leute nach Berlin ziehen, ist das aufregende Nachtleben. Das Sichverlieren im Club und in der Nacht ist keine Verzweiflungstat einiger Speedjunkies, sondern eine Reaktion auf eine Gesellschaft, die immer mehr fordert, aber immer weniger zu geben in der Lage ist. Dass dabei Grenzen überschritten und Tabus gebrochen werden, dass das alles vollkommen unvernünftig ist - na klar. Darum geht’s!

"Die Kultur verhilft uns durch ihre Gebote des Feierns dazu, dass wir das Ungute bejahen und daraus etwas Grandioses machen können. Und genau das verschafft uns den Triumph: Wir sind begeistert über unsere Verwandlungskraft", sagt der Philosoph Robert Pfaller.

Und wo stehen wir jetzt, wo alles vorbei ist? Wieder am Anfang. Wieder bei Jorinde Berg, die sich überlegt, ob sie nach drei Wochen harter Arbeit für zwei Tage nach Gran Canaria fliegen oder ins Berghain fahren soll. Und wir sind wieder umringt von all den Mahnern, die Vernunft fordern und Funktionalität meinen. Die von Verantwortung reden, aber die Menschen entmündigen. Die in den beschriebenen Formen des Feierns nur Akte von Verzweiflung erkennen. Aber was heißt hier Verzweiflung? Was ist besser? Den Frust zu Hause vor der Glotze runterzuschlucken und zu schweigen oder ihn wegzutanzen und vor Freude zu schreien?