Kriminalität Mutter und Kind überfahren: Bewährungsstrafe für 84-Jährigen
Eine Touristin und ihr vierjähriger Sohn im Kinderwagen werden in Berlin- Mitte von einem Auto erfasst, als sie die Straße überqueren wollen. Der Fahrer erlitt einen Anfall. Die Gefahr kannte er.

Berlin - Eine Berlin-Touristin und ihr vierjähriger Sohn im Kinderwagen haben die Leipziger Straße in Berlin-Mitte fast überquert - da werden sie von dem Auto erfasst. Rund 15 Monate nach dem Tod der beiden wurde ein 84-Jähriger zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Das Amtsgericht Tiergarten sprach den Mann der fahrlässigen Tötung in zwei Fällen, der fahrlässigen Gefährdung des Straßenverkehrs und fahrlässiger Körperverletzung in vier Fällen schuldig.
Der Angeklagte habe sich trotz erheblicher körperlicher Mängel - in Kenntnis einer Herzerkrankung, bei der es jederzeit zu Ohnmachtsanfällen kommen könne - ins Auto gesetzt, sagte die Vorsitzende Richterin Franziska Bauersfeld.
Kurz vor dem Unfall am 9. März 2024 sei es bei ihm zu einem Anfall gekommen, der Angeklagte sei immer schneller geworden und auf das Stauende zugefahren. Dann habe er gesehen, dass die Fahrzeuge gestanden hätten, habe sich „irgendwie retten wollen“. Als er auf den Radweg gezogen habe, habe er die Familie erfasst. Durch sein Fehlverhalten habe er eine Familie zerstört - „das Leid ist unermesslich“.
Mit Tempo 89 Mutter und Sohn erfasst
Mit 89 Kilometern pro Stunde habe der Autofahrer die 41-jährige Frau aus Belgien und ihren im Kinderwagen sitzenden Sohn erfasst. Fünf weitere Menschen wurden verletzt. Nach Überzeugung des Gerichts befuhr der Senior zunächst die Busspur. Statt der dort erlaubten 30 Kilometer pro Stunde soll er auf 70 bis 90 Kilometer pro Stunde beschleunigt haben.
Die Frau war mit ihrem Lebensgefährten und ihrer Schwester unterwegs. Die Familie aus Belgien wollte die Leipziger Straße auf der Höhe der Mall of Berlin überqueren. Während der Mann und die Schwester den Gehweg auf der anderen Straßenseite bereits erreicht hatten, befand sich die Mutter mit dem Buggy-Kinderwagen noch an der Bordsteinkante, als der Angeklagte auf der Radspur laut Gutachten ungebremst auf sie zuraste. Mutter und Kind starben kurze Zeit später in einem Krankenhaus.
Der 42-jährige Mann und die Schwester der 41-Jährigen erlitten einen Schock. Die Familie war den Angaben zufolge für einen touristischen Kurzbesuch in Berlin. Der Feuerwehrmann und die Schwester waren im Prozess Nebenkläger. „Sie sind aber nicht in der Lage, persönlich zu erscheinen“, sagte ihr Rechtsanwalt. Nebenkläger war zudem ein 64 Jahre alter Tierarzt, dessen Auto angefahren worden war.
Angeklagter ohne Erinnerung an den Unfall
Der 84-Jährige hatte im Prozess erklärt, es tue ihm unendlich leid. An den Unfall habe er allerdings keine Erinnerung. Bei Fahrtantritt habe er sich gesundheitlich nicht beeinträchtigt gefühlt. Täglich müsse er an das Geschehen und die Opfer denken, so der Witwer. Er sei seit 1963 als Kraftfahrer im Fernverkehr tätig gewesen, sei ohne Vorbelastungen. Seinen Führerschein hatte der 84-Jährige nach dem Unfall freiwillig abgegeben.
Zeugen schilderten, plötzlich sei ein Auto „regelrecht angeschossen gekommen“. Ein 48 Jahre alter Autofahrer sagte: „Die Fußgänger waren links von mir, ich winkte sie rüber, dann hörte ich quietschende Reifen.“
Das Gericht ging davon aus, dass sich der Senior am Steuer möglicherweise in einem Zustand befunden habe, „in dem eine bewusste Entscheidung nicht mehr möglich war“. Ihm sei vorzuwerfen, dass er sich trotz seiner schwerwiegenden Erkrankung, bei der es jederzeit zu lebensbedrohlichen Ohnmachtsanfällen kommen könne, an Steuer gesetzt habe. Als er auf der Leipziger Straße realisierte, was geschah, versuchte er gegenzulenken, wie die Richterin sagte. Das entsetzliche Geschehen habe auch den Angeklagten gezeichnet.
Ärztin: Herzstillstand für Sekunden
Eine Kardiologin, die den Angeklagten nach dem Unfall untersucht hatte, sagte im Prozess, aus ihrer Sicht könnte es durch eine Synkope für einige Sekunden zu einem Herzstillstand gekommen sein. Der Senior sei bereits im Juni 2023 auf die Notwendigkeit eines Herzschrittmachers hingewiesen worden. Damals sollen bei ihm Herzrhythmusstörungen festgestellt worden sein. Er soll wegen einer Krebserkrankung seiner Frau nicht darauf eingegangen sein. Eine kardiologische Synkope trete plötzlich auf, so die Ärztin. Einen epileptischen Anfall bei dem Senior schloss sie aus.
Der Staatsanwalt und der Nebenklage-Anwalt, der den Mann der 41-Jährigen und ihre Schwester vertrat, plädierten auf zwei Jahre Haft auf Bewährung. Der Verteidiger forderte Freispruch. Sein Mandant, der an jenem Tag erstmals allein zum Grab seiner knapp acht Monate zuvor gestorbenen Ehefrau habe fahren wollen, sei wegen der Belastungen schuldunfähig gewesen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.