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Jugend Jugend: Helfer in schwierigen Zeiten

Von Swantje Werner 28.07.2004, 08:29
Die Suche nach dem richtigen Wort (Foto: dpa)
Die Suche nach dem richtigen Wort (Foto: dpa) Jens Schierenbeck

Mannheim/Bielefeld/dpa. - Kurt Cobain und Che Guevara hatteneines und Anne Frank, Christiane F. und Julia und Marie von «GZSZ»auch. Wer ein Tagebuch schreibt, tut dies im Geheimen und ist dennochTeil einer großen Gemeinschaft. Denn das Tagebuch ist nachEinschätzung von Jugendforschern nach wie vor modern.

Die beste Eigenschaft des Tagebuches ist, dass man sich hier allesvon der Seele schreiben kann, sagt die EntwicklungspsychologinChristiane Papastefanou von der Universität Mannheim. Keiner kanneinem dreinreden, niemand den Schreibvorgang kontrollieren.

Laut dem Kindheits- und Jugendforscher Christian Palentien von derUniversität Bielefeld zeigen Tagebuchschreiber auch Mut: Sie trauensich, dem Informations-Bombardement von außen ihre ganz persönlichenBewertungen entgegenzuhalten: «Wir leben in einer stark medialbestimmten, schnelllebigen Zeit. Wenn man ohne Leitfaden durch diesesLeben rast, verliert man die Orientierung.» Ein Tagebuch könne helfenherauszufinden, worauf es wirklich ankommt.

Ohnehin hat man als Jugendlicher Palentien zufolge mehr Problemezu bewältigen als so mancher Erwachsene: Die Auseinandersetzung mitFreunden gehört ebenso dazu wie Sex, Stress in der Schule oder dieerste Beziehung. Weil nur in seltenen Fällen Eltern als Ratgeberdienen, könne es eine Möglichkeit sein, «sich selbst alsAnsprechpartner zu wählen» - mit Hilfe des Tagebuchs.

Ganz nebenbei übt sich jeder Tagebuchschreiber darin, Dingeüberhaupt in Worte zu fassen und durch das Schreiben eine langsamereund vielleicht auch genauere Art des Denkens zu entwickeln. «Maneignet sich eine andere Sprache an als beim Sprechen, das kann manimmer gebrauchen», sagt Psychologieprofessor Otto Kruse vom Zentrumfür Professionelles Schreiben an der Zürcher Hochschule Winterthur.

Manchmal kann das Ringen um das richtige Wort sogar helfen, einenrealen Konflikt besser zu führen, sagt Pädagoge Christian Palentien.In anderen Fällen reicht es laut Christiane Papastefanou, im Tagebuchein paar passende Sätze zu formulieren, die der oder die Betroffenenie zu hören bekommt.

Private Notizen sind kein Tick von Menschen, die sonst keineFreunde haben, sondern spielen auch in Wissenschaft und Therapie eineRolle. Der US-amerikanische Altersforscher Prof. David J. Demko etwazählt das Verfassen privater Notizen zu den lebensverlängerndengeistigen Tätigkeiten. Und Ärzte oder Therapeuten bitten ihrePatienten nicht selten um regelmäßige Aufzeichnungen. So werdenTages-Protokolle bei der Behandlung von Essstörungen, Ängsten oderDepressionen genutzt, um die Selbstbeobachtung zu schärfen, sagtPapastefanou.

Wer allerdings in seinem privaten Tagebuch ausschließlich Probleme festhält, verstärkt eine traurige Grundstimmung unter Umständennoch. Psychologe Kruse rät deshalb, auch Dinge aufzuschreiben, überdie man sich gefreut hat oder die einem gut gelungen sind.

Um aus den immer gleichen Gedankenkreisen herauszukommen, rätKruse, ab und zu die Perspektive zu wechseln: «Man kann einfach malversuchen, Ereignisse aus der Warte eines anderen aufzuschreiben.»Ein Tagebuch verträgt außerdem auch Experimente: Wer will, kannprobehalber einmal eine andere Lösung für ein Ereignis erfinden, dasihn wütend oder traurig gemacht hat.

Damit nicht nur das Schreiben, sondern auch das Tagebuch-LesenSpaß macht, sollten Orte und Personen möglichst genau beschriebenwerden, sagt Kruse. «Man kann sich zum Beispiel überlegen: Wie siehtder eigentlich genau aus? Was hat der genau gesagt?» Dass man sichbeim Schreiben zunächst unbeholfen fühlt, sei aber ganz normal. «Dasist immer so. Man muss am Anfang mit dem auskommen, was man hat.»

Die größte Gefahr beim Tagebuchschreiben ist allerdings nicht,dass man sich beim späteren Lesen langweilt, sondern dass es infalsche Hände gerät. Nach der Erfahrung von Psychologin Papastefanouist es ein Vertrauensbruch mit langen Folgen, wenn Eltern nichtakzeptieren, dass die Tagebuch-Worte nicht für sie bestimmt sind. Sierät, die Notizen auf keinen Fall nachlässig liegen zu lassen.Psychologe Kruse empfiehlt, ein Tagebuch am PC führen und es alsunverfängliche Datei in den Tiefen des Rechners zu speichern – dakennen sich neugierige Eltern meist nicht besonders gut aus.

Nach wie vor ist Tagebuchschreiben eine Domäne von Mädchen. Dabeikönnten Jungen mindestens ebenso sehr von der Möglichkeitprofitieren, Gefühle unzensiert in Worte zu fassen: Laut Palentienund Papastefanou fehlt vielen Jungen ein fester Ansprechpartner,während die meisten Mädchen wenigstens eine richtige Freundin haben.Und «unmännlich» ist das Verfassen privater Notizen ebenfalls nicht.Schließlich kommt kaum ein prominenter Autor ohne solche Unterlagenaus - ganz egal, ob er Goethe heißt oder Effenberg.