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Neues Einsichtsfenster Gotthard-Tunnel: So sieht der Tunnel von innen aus

Von Hans-Ulrich Köhler 14.05.2017, 10:00
Der Gotthard-Tunnel
Der Gotthard-Tunnel Marcus Huwyler

Wie das pfeift! Leise erst, weit weg. Dann schwillt der hohe Ton an und ist plötzlich so schneidend laut, dass sich viele Besucher des Gotthard-Basistunnels die Ohren zuhalten, wenn Züge vorbeidonnern. Es sei denn, sie haben gemacht, was ihnen vor der Fahrt geraten wurde: Ohrenstöpsel rein. Die sind rot, in einer winzigen Plastbox verpackt, die an einer kleinen Silberkette hängt.

Es ist das einzige Souvenir, das sie später daran erinnern wird: Ich war drin im längsten Eisenbahntunnel der Welt. Im Zugangsstollen Amsteg kommen Tunnelbesucher seit kurzem dem Jahrhundertbau so nah wie nirgendwo sonst. Denn acht Kilometer nachdem die Züge in Erstfeld in der Röhre verschwunden sind, brausen sie hier an einem Fenster im Tunnelbeton vorbei - einmalig in der Welt, werben Schweizer Tourismusmacher.

Der Rekordhalter unter den Eisenbahntunneln führt über 57 Kilometer von Erstfeld im Schweizer Kanton Uri nach Bodio im Tessin, darüber das Gotthard-Massiv, das im 2 983 hohen Piz Vatgira gipfelt. Das Matterhorn-Land hat schönere Berge als diesen, aber das Gotthard-Massiv - einen Berg dieses Namens gibt es nicht - umwabert seit Jahrhunderten ein Mythos, der fest mit der eidgenössischen Sehnsucht nach kurzen Wegen in den Süden verbunden ist. Bereits 1830 wurde die Straße über den 2 106 Meter hohen Gotthard-Pass eingeweiht.

Unter ihm gibt es nun drei große Röhren. Ganz oben liegt der allererste Gotthard-Tunnel, ein Eisenbahn-Tunnel von 1882, 15 Kilometer lang. Etwa auf gleicher Höhe befindet sich der Straßentunnel, 17 Kilometer, vollendet 1980. Ganz unten dann der Gotthard-Basistunnel - darüber 2 300 Meter Fels. Seit dem 10. Dezember 2016 fahren die Züge hier fahrplanmäßig durch und verkürzen die Fahrzeiten von Nord- nach Südeuropa um bis zu 40 Minuten - vorbei am Tunnelfenster von Amsteg.

Das schiebt sich wie eine Vitrine in die Röhre und ist die Attraktion eines Museums, das hier Geschichte und Bau eines der größten Verkehrsprojekte, das die Menschheit je verwirklicht hat, erlebbar macht. Dorthin können Besucher mit Guides von Uri-Tourismus gelangen. Ein kleiner Bus bringt sie zwei Kilometer tief hinein ins Gotthard-Massiv. Gut 300 Meter lang ist dann der zehn Meter hohe Museums-Stollen. Wacklige Schwarz-weiß-Filme zeugen eingangs vom Heroismus und vom Leid der Mineure, die bis 1882 zwischen Göschenen und Airolo den ersten Tunnel durch den Fels getrieben hatten.

Wenige Schritte weiter empfängt eine voll digitalisierte Museumswelt. Sie ist geschickt mit den Klassikern des Geschichte-Erzählens verbunden: Werkzeuge gibt es zu sehen, Gesteinsproben, Bohrtechnik, Ausrüstung, Zeitdokumente aus Papier, Dinge zum Anfassen, zum Bewegen. Und es wird der Tunnel-Toten gedacht: Neun Arbeiter verloren ihr Leben - bei Unfällen mit Baufahrzeugen.

Gesprengt wurde wenig im Gotthard. Nur zu 20 Prozent wurde der Tunnel so vorangetrieben. Die Hauptarbeit leisteten vier Bohrmaschinen, die zu den größten Maschinen aller Zeiten zählten. Bohrköpfe mit 8,89 Meter Durchmesser fraßen sich rotierend durchs Gestein - Riesenaggregate von 400 Meter Länge. Zwei getrennte Röhren entstanden, alle 325 Meter aus Sicherheitsgründen durch Querröhren verbunden. 17 Jahre lang sind 28 Millionen Tonnen Gestein aus dem Berg geholt worden, genug für einen 7 700 Kilometer langen Güterzug. Zwei Drittel davon wurden zu Schotter verarbeitet oder Beton beigemischt. Aus einem Teil wurden im Urner See sechs kleine Inseln aufgeschüttet.

Noch bevor die ersten Züge durch den Tunnel flitzten, begannen unter Eisenbahnfreuden und Eisenbahnern die Debatte um die Zukunft der alten Trasse durch den Gotthard. Das ist ein Meisterwerk der Ingenieurskunst mit mehreren spiralförmigen Tunneln im Fels, die für schnelleren Höhengewinn sorgen. 32 Tunnel aller Art gibt es insgesamt auf den 108 Kilometern der alten Gotthard-Bahn von Erstfeld bis Bellinzona, unzählige Brücken. 700 Meter hoch geht es von Erstfeld bis Airolo, 900 abwärts bis Bellinzona, Schwerstarbeit für die Züge. Wenn ab 2020 dem Basistunnel der neue, 15 Kilometer lange Ceneri-Tunnel folgt, können schwere Lasten und schnelle Züge nahezu ohne Gefälle über 70 Kilometer durch den Berg eilen. Skeptiker sehen deshalb die historische Gotthard-Strecke als reine Touristen-Linie enden, Eisenbahn-Fans hoffen stark darauf.

Am Ende des Museum treten die Besucher in ein echtes Stück Tunnel ein, in Originalgröße, Querschnitt 7,76 Meter. Darin Schienen, Schwellen, Leitungen, Signale, ganz wie in der Röhre, deren Geschichte viel länger als die 17 Jahre Bauzeit ist, die im Februar 1999 begann. Bereits 1947 hatte der Baseler Ingenieur Eduard Gruner eine erste Vision für einen Tunnel entworfen, erst Jahrzehnte später wurde daraus auch ein Bauplan. Basisdemokratisch wie die Eidgenossen veranlagt sind, dauerte es einige Volksabstimmungen, bis die Finanzierung des Tunnels 1998 endgültig stand. 9,7 Milliarden Schweizer Franken waren geplant, 12,2 wurden es - Stuttgart 21 und die Elbphilharmonie lassen grüßen.

Gotthard-Basistunnel: Was für ein Selfie-Ort!

Darüber lässt sich trefflich auf einer Bank vor dem Fenster sinnieren. Über ihr benennt ein Schild einen Haltepunkt, den es nirgendwo gibt: Gotthard-Basistunnel - was für ein Selfie-Ort! Dahinter geht es rein ins Fenster, wenn zwei massive Türflügel geöffnet werden. Ein Fahrplan rechts davon zeigt an, wann während der beiden täglichen Führungen Züge vorbeikommen. Pünktlich versteht sich.

Güterzüge sind im Plan nicht verzeichnet, schade für den Gast aus dem Luther-Land. Draußen könnte ein Landsmann vorbeifahren. Lokführer Karsten Salzer, in Eisleben geboren, zieht im Auftrag von RheinCargo von Zeit zu Zeit schwere Güterzüge durch den Tunnel und macht auf anderen Schweizer Strecken Werbung für den Reformator: An seiner Lok prangt dann Luthers Konterfei.

Acht Zentimeter dickes Glas

Im Tunnelfenster würde man davon nichts sehen. Zu schnell sind die Züge, die nur eine Armlänge vom Besucher entfernt draußen vor dem Glaskasten vorbeihuschen. Der ist 3,49 Meter lang, 2,50 Meter hoch und ragt 60 Zentimeter in den Tunnel. Die schmale Scheibe rechts ist der Logenplatz für Fotografen, da kommen die Züge direkt auf sie zugerast. Ein komisches Gefühl, auch wenn Zahlen beruhigen sollen.

Fast acht Zentimeter dick das Glas, 12 Lagen, Spezialfolie und Panzerglas im Wechsel, gefertigt nach strenger Norm: Ein Objekt mit einem Kilo Gewicht könnte mit 370 km/h dagegen knallen, ohne dass hinterm Glas etwas passiert. Vor dem Glas zischen Züge mit bis zu 200 km/h vorbei. Bei dieser Geschwindigkeit ist man in gut 20 Minuten durch. Zu sehen gibt es nichts im Dunkeln. So ist Zeit, sich der Einmaligkeit der Passage zu vergewissern: Ich bin drin - so wie die Fenster-Besucher, die sich womöglich in Höhe Amsteg gerade ihre roten Stöpsel in die Ohren stopfen.

Aber warum pfeift es drinnen im Museum eigentlich? Abwasser links und rechts der Gleise spielt eine Rolle, der Sog, das Tempo, Wasser, das sich dann kräuselt. Kurz, wird vor Ort erklärt, es ist, wie wenn man über die Öffnung einer halbvollen Wasserflasche bläst. Nur den hohen Tunnel-Ton schafft man so nie.

Mehr Information:

www.uri.info
www.myswitzerland.com
www.tunnel-erlebnis.ch
www.mythos-gotthard.ch

(mz)