Geschichte Geschichte: Auf der Stasi-Todesliste
HALLE/MZ. - Doch auch anschließend wurde der 1937 in Halle geborene Schreiber weiter von der Stasi gesucht. Notfalls sollte er sogar getötet werden - und das, obwohl er als Schausteller und Betreiber von Eisdielen in Ostberlin an sich keine politisch bedeutende Persönlichkeit war. Dennoch soll auch der letzte Ministerpräsident der DDR und frühere Anwalt Lothar de Maizière (CDU) ihn an die Stasi verraten haben. Das jedenfalls behauptet Schreiber in seinem Buch "Im Visier. Chronik einer Flucht", das in diesen Tagen erschienen ist.
"Im Sommer 1981 hat der Rechtsanwalt Lothar de Maizière, 104 Berlin Friedrichstraße 14, dem Ministerium für Staatssicherheit eine Information über Schreiber, Willy für den Verdacht des illegalen Verlassens der DDR gegeben", zitiert Schreiber in seinem Buch handschriftliche Aufzeichnungen des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Das Papier stammt aus Schreibers Stasi-Akten und ist in seinem Buch abgedruckt.
De Maizière war damals als Scheidungsanwalt für die frühere Ehefrau Schreibers tätig, was der Jurist auch gegenüber der MZ bestätigt. "Es war ein höchst emotional geführtes Ehescheidungsverfahren", erinnert er sich. Die Spitzel-Vorwürfe weist de Maizière, der stets eine IM-Tätigkeit bestritten hat, jedoch von sich. "Ich hatte keine Kenntnis von der geplanten Republikflucht von Herrn Willy Schreiber und habe dies daher auch nicht dem Ministerium für Staatssicherheit mitteilen können."
Der handschriftliche Bericht aus den Stasi-Akten Schreibers sei insgesamt wenig schlüssig, der Satz über ihn selbst - de Maizière - seltsam. Zudem glaubt der frühere Ministerpräsident, dass Schreiber die Flucht mit einem minderjährigen Kind nicht gelungen wäre, wenn "wer auch immer dem Ministerium für Staatssicherheit von dieser Absicht Mitteilung gemacht hätte".
In dem Buch schildert Schreiber, wie er in die Fänge der Stasi geriet. Seine Ehefrau hatte eine Affäre mit einem Stasi-Spitzel und drängte auf die Scheidung. Schreiber, der durch den Verkauf von Eis auf Jahrmärkten und in einer Eisdiele zu einigem Wohlstand gekommen war, fühlte sich bei den Scheidungs-Verhandlungen über den Tisch gezogen und zunehmend von Befragungen und Bespitzelungen der Stasi verunsichert. Als er eine erneute Vorladung zur Polizei, Abteilung Innere Angelegenheiten, erhielt, glaubte er, dass ein Komplott des Spitzels, seiner Noch-Ehefrau und der Stasi aufgegangen war. Um der drohenden Verhaftung zu entgehen, floh er mit seiner Tochter, versteckt im Kofferraum eines italienischen Freundes und Lieferanten, über den Checkpoint Charlie.
Was hinter Drohanrufen - "Wir bringen dich um, wir kriegen dich" -, Fast-Autounfällen und anderen Schikanen nach der Flucht stand, konnte Schreiber nach der Wende in seinen Stasi-Akten nachlesen. Da bekannt geworden war, dass der Schausteller auch seinen Sohn aus der DDR in den Westen holen wollte, wurde in einem Operativ-Plan der Stasi festgeschrieben, dass "eine Liquidierung auf frischer Tat" anzustreben ist, wenn die Ausschleusung sonst nicht verhindert werden könnte. Die Drohanrufe und auch Stasi-Mitarbeiter, so glaubt Schreiber, verfolgten ihn bei seiner Flucht nach Italien, Österreich und sogar 1987 bis nach Tahiti. Noch im Dezember 1989 wurde ein Haftbefehl gegen ihn bis ins Jahr 2014 verlängert, entdeckte er in seinen Akten.
Schreiber hatte seine Erinnerungen bereits 2000 veröffentlicht, hat jetzt allerdings weitere Unterlagen der Birthler-Behörde eingearbeitet - unter anderem diejenigen zu de Maizière. Schreiber weiß, dass seine Geschichte abenteuerlich klingt. "Man kann alles in einem Dokumentenband nachlesen", betont er - indes wird dieser erst später erscheinen. "Außerdem bin ich der beste Beweis dafür, dass es so etwas gegeben hat", bekräftigt der 71-Jährige, der heute in der Nähe von München lebt.
Allerdings räumt er ein, teilweise unvorsichtig gewesen zu sein. Denn obwohl er sich denken konnte, dass sein Telefon abgehört wurde, erzählte er seiner Tochter von seiner Flucht nach Tahiti. "Ich glaubte, dass die Stasi froh sein müsste, mich loszuwerden", sagt er. Nicht recht logisch klingt die Erklärung, warum er nie auf die Idee gekommen ist, dass seine Ex-Frau und ihr neuer Partner der Staatssicherheit zugetragen haben: "Ich habe ja erst durch die Akten erfahren, dass er tatsächlich IM war. Meiner Ex-Frau hätte ich das nie zugetraut", erklärt Schreiber.
An vielen Orten hat der Hallenser, der in der Saalestadt die Schule besucht hat und dort später eine Drucklehre absolvierte, bereits von seiner Biographie berichtet. In Rostock, Leipzig, Magdeburg, Wien und anderen Orten war er zu Lesungen eingeladen - aber noch nie in Halle. An diesem Freitag liest er auch dort. Auf die Veranstaltung in der Stadt, wo er noch in den 70er Jahren eine Wohnung als Winterquartier hatte, freut sich der 71-Jährige besonders: "Ich bin froh, den Menschen meine Geschichte erzählen zu können."
Willy Hieronymus Schreiber: Im Visier. Chronik einer Flucht. Jena, TvR Medienverlag, 2009. 19,90 Euro.
Die Lesung mit Willy Schreiber findet auf Einladung der halleschen Gedenkstätte "Roter Ochse" am 18. September um 17 Uhr im Hotel Maritim statt.