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Fußball-WM 2006 Fußball-WM 2006: Kleinkünstler und Barpianisten gegen 18 Bordelle

06.10.2005, 09:37
Bunt leuchten die Neonreklameschilder in der Taunusstraße im Rotlichtviertel von Frankfurt am Main. Gegenüber dem Hauptbahnhof befindet sich das Bahnhofsviertel - in dem auch der Rotlichtbezirk liegt -, der wie kaum eine andere Gegend in Deutschland für Sex, Drogen und Kriminalität steht. (Foto: dpa)
Bunt leuchten die Neonreklameschilder in der Taunusstraße im Rotlichtviertel von Frankfurt am Main. Gegenüber dem Hauptbahnhof befindet sich das Bahnhofsviertel - in dem auch der Rotlichtbezirk liegt -, der wie kaum eine andere Gegend in Deutschland für Sex, Drogen und Kriminalität steht. (Foto: dpa) dpa

Frankfurt/Main/dpa. - Einmal im Monat trifft sich Sonntags seit kurzem im «Pik-Dame» ein jüngeres Szene-Völkchen, das so gar nicht zu den umliegendenBordellen des Frankfurter Bahnhofsviertels passt. Kleinkünstler wie Graupner oder der Barpianist Gabriel Groh wollen mit einem Revue-Programm - ein bisschen nackter Haut inklusive - einen Beitrag leisten, den verrufenen Stadtteil wieder hoffähig zu machen.

Auch die Stadt Frankfurt versucht sich zum wiederholten Male aneiner kosmetischen Operation ihres aus vielen TV-Krimis bekannten Schmuddelkindes. Bei der Fußball-WM im kommenden Jahr sollen die Besucher am Hauptbahnhof - mit täglich 350 000 Reisenden einer der größten Verkehrsknotenpunkte Europas - nicht gleich einen schlechten Eindruck erhalten. Im Schatten der Bankentürme steht das Frankfurter Bahnhofsviertel wie kaum ein anderes in Deutschland für Sex, Drogen und Kriminalität. Während St. Pauli mit der Reeperbahn wohlwollend als «Amüsiermeile» tituliert oder mit der Seefahrer-Romantik verknüpft wird, hat sich das schlechte Image des Bahnhofsviertels in Frankfurt nicht gewandelt.

Dabei gehörte vor 100 Jahren der damals neu geschaffenerepräsentative Wohn- und Geschäftsbezirk am prunkvollen Bahnhof zu den besten Adressen der Stadt. Damals lebten dort 11 000 Einwohner, heute sind es nur noch etwa 2400. Mit mehr als 50 Prozent hat das Viertel den höchsten Ausländeranteil aller Stadtquartiere.

18 Bordelle stehen dicht an dicht nördlich der Kaiserstraße, desehemaligen Frankfurter Prachtboulevards und der zentralen Achse des Viertels. Fast 1000 Prostituierte arbeiten dort in unmittelbarer Nähedes Finanzzentrum mit den stählernen Türmen von Dresdner Bank oderDeutschen Bank sowie der Europäischen Zentralbank. Südlich derKaiserstraße findet sich ein buntes Sammelsurium aus marokkanischen,türkischen, indischen oder thailändischen Geschäften. Allein in derMünchner Straße finden sich auf wenigen hundert Metern vier kleineMoscheen.

Die Stadt Frankfurt will nun dafür sorgen, dass das Viertel auchwieder mehr Bewohner anlockt. Zehn Millionen Euro stellt dieVerwaltung Investoren zum Ausbau der oft verlotterten Gründerzeit-Bauten zur Verfügung, die zum Großteil denkmalgeschützt sind. Mitmehreren Interessenten werde derzeit verhandelt, sagt der für dasBahnhofsviertel zuständige Stadtplaner Dierk Hausmann.

«Zehn Millionen sind nichts, das reicht für vielleicht zweiHäuser», meint dagegen Immobilienbesitzer Jakob Schnabel, der seineHäuser in der Kaiserstraße vorbildlich renoviert hat. Schätzungsweise80 Wohnungen im Viertel stehen derzeit leer. Zwei Prachtbauten desbankrotten Baulöwen Jürgen Schneider gammeln in der Kaiserstraße vorsich hin, weil die Gläubigerbanken für die in ihren Büchern viel zuhoch veranschlagten Immobilien keine Abnehmer finden. «Eine Schandefür die Banken», urteilt Schnabel.

Die Stadt hat außerdem ein Architektenteam beauftragt, einenRahmenplan zur Entwicklung des Viertels auszuarbeiten. Das Büro bb22hat im Sommer dort einen kleinen Laden angemietet, der als«Ideenlabor» dient. Hier wird über künftige Dachgärten nachgedachtoder darüber, wie leer stehende Häuser wieder Bewohner findenkönnten. Dafür sind die Chancen derzeit gar nicht so schlecht, wiebb22-Architekt Thomas Wilhelm die Lage einschätzt.

Vor allem könnte es für Investoren wieder interessant sein,Geschäftshäuser auch in Wohnungen umzuwandeln. «Die Blase istgeplatzt», sagt Wilhelm und meint damit den zusammengebrochenen Büro-Immobilienmarkt Frankfurts mit einem Rekordleerstand von fast 20Prozent. Seit Ende der Spekulationswelle sitzen auch großeImmobilienfonds auf leeren Häusern, die sich derzeit nicht als Bürosvermieten lassen. Auch das «Ruinen-Roulette» - leer stehendeWohnhäuser verkommen solange, bis die Stadt die Nutzung als Hoteloder Geschäftshaus zulässt - hat ausgedient.

Mit dem Bordellviertel hat die Stadt allerdings inzwischen Friedengeschlossen. Zuletzt war in den 80er Jahren der Versuch des damaligenFrankfurter Oberbürgermeisters Walter Wallmann (CDU) gescheitert, dasGebiet zum Sperrbezirk zu erklären, um dem Rotlichtmilieu den Garauszu machen. Inzwischen haben die Bordellbesitzer ihren Anteil zurImagepflege des Viertels getan. Frisch getünchte Jugendstilfassadenerstrahlen in neuem Glanz. Teilweise sorgen überlebensgroße Puppen,die in verrückten Verrenkungen von den schmiedeisernen Balkonenhängen, für ungewöhnlichen Fassadenschmuck.

Solche künstlerischen Attitüden täuschen nicht darüber hinweg,dass Bordelle heute wie kommerzielle Großbetriebe durchorganisiertsind. Und natürlich wird alles heute elektronisch überwacht - vomEingang bis zu den Fluren auf den Etagen. In den Häusern geht esstreng hierarchisch zu: Der erste Stock gehört den deutschen Huren,dann kommen aufwärts die Thai-Frauen und die Südamerikanerinnen. Ganzoben und damit am weitesten entfernt sitzen die Afrikanerinnen.

Vor einigen Jahren noch versuchte die Polizei mit Razzien illegalarbeitende Südamerikanerinnen aufzuspüren. Zum Eklat kam es, als zweijunge Frauen auf der Flucht vor Beamten in den Tod sprangen.Inzwischen reisen die Südamerikanerinnen legal per Touristenvisumein, wie Polizeisprecher Jürgen Linker berichtet. Seine Behörde siehtdie Schleuserbanden aus Osteuropa als größere Gefahr. DieErmittlungen seien jedoch schwierig. «Es gibt eine großeDunkelziffer», sagt Linker eher resignierend. Die Polizei ist schonfroh, wenn sie mit Hilfe von Videokameras die alltäglicheKleinkriminaliät im Viertel besser eindämmen kann.

Die Globalisierung der Prostitution hat nicht nur die deutschenFrauen verdrängt, sondern die Preise für Sex im Viertel nach untengedrückt. Die billigste «Nummer» gibt es nach den Erfahrungen vonSzene-Kennern schon für 25 bis 30 Euro. Nur noch wenige Frauen kommenheute abzüglich der Zimmermiete auf 300 Euro pro Tag, früher warenbis zu 1000 Mark üblich. Strip-Lokale wie das «Pik-Dame», wo dieFlasche Sekt schon mal 300 Euro kosten kann, leiden heute nicht nurunter dem Preisdruck der Bordellhäuser. Die allgemein schlechteKonjunktur sei zu spüren, sagt Thorsten Gauß, zusammen mit seinemBruder Besitzer des Lokals. «Ich mache mich aber nicht verrückt»,meint er achselzuckend.

Ähnlich denken auch andere Alteingesessene, die weniger anrüchigeGeschäfte betreiben. Dazu gehört die Musikalienhandlung Hahn, die inder vierten Generation Gitarren und Schlagzeuge verkauft. «Wirkämpfen um jeden Kunden», sagt Juniorchef Bernhard Hahn (38), indessen Laden Größen wie Bill Haley, Sammy Davis jr. oder RoryGallagher ein- und ausgingen.

In der in der Bordellzone gelegenen Taunusstraße haben praktischalle alten Geschäfte dicht gemacht. Grund dafür sind weniger dieschummrigen Lokale, sondern eine nahe gelegene Drücker-Stube, in derDrogenabhängige mit Stoff versorgt werden. Diese seien ein Problem,sagt Hahn. «Aber Junkies sind eben auch ein Teil der Gesellschaft. Wosollen sie denn sonst hin?», meint er fragend.

Nicht so liberal denkt Schumachermeister Wolfgang Lenz in derMünchner Straße, die mit ihren vielen Geschäften das urbanste Flairim Viertel hat. «Die Drogenpolitik der Stadt ist eine Katastrophe»,sagt Lenz in seinem über 50 Jahre alten Laden. Ginge es nach ihm,dann würden mehrere hundert Drogenabhängige aus dem Viertel direktvor das Rathaus auf den Römerberg verpflanzt. «Mit der Drogenszenekönnen wir uns nicht abfinden», sagt auch ImmobilienbesitzerSchnabel. Mit den zehn Millionen, die die Stadt in den Wohnungsbaustecken wolle, solle sie lieber für mehr Ordnung sorgen.

Um das Drogenproblem im Bahnhofsviertel besser in den Griff zukriegen, hat die Stadt vor einem Jahr zusammen mit der Polizei ein Modellprojekt gestartet. Die Beamten gehen gezielt gegen dieDrogenszenen an den belebtesten Ecken und Plätzen vor. Den Abhängigen wird zugleich sozialtherapeutische Hilfe und die Versorgung mit Rauschgift in den «Drückerstuben» angeboten.

Während die Stadt das zunächst noch bis Ende des Jahres laufendeProjekt als großen Erfolg feiert, wird dies von anderen bezweifelt.«Die Drogenaktivitäten haben sich zerstreut und flächendeckendverteilt», weiß Marie-Theres Deutsch aus Erfahrung. Die Architektinlebt und arbeitet im Bahnhofsviertel. Alle paar Jahre zieht sie insgroßbürgerliche Westend, weil sie den täglichen Ärger im Viertelnicht mehr aushält. Aber immer wieder kehrt Deutsch dann auch wiederreumütig zurück - so wie viele andere Freischaffende und Künstler,die in den vergangenen Jahren das schillernde Viertel für sichentdeckt haben. «Darin liegt die Chance des Viertels», sagt ThomasWilhelm vom «Ideenlabor». «Wir müssen junge Leute und Studenten hierreinholen.» Er hält es eher für utopisch, Familien mit Kinder fürWohnprojekte zu gewinnen.

Gerald Hintze, Leiter eines Obdachlosenzentrums des DiakonischenWerks im Bahnhofsviertel, will vor allem einen weiterenVerelendungsprozess verhindern. Zugleich gehe darum, eine Identitätaufzubauen. «Hier macht jeder noch sein Ding», sagt Hintze undfordert eine Imagekampagne für das Bahnhofsviertel. Als Vorbild dientihm eine Aktion der Züricher Langstraße - einem Gebiet mit ähnlichenProblemen.

Wie Hintze setzen viele Bewohner und die Planer auf Künstler oderGaleristen, die dem Viertel kreativ und mit Fantasie neuePerspektiven bringen sollen. «Wir haben gute Chancen den Imagewandelzu schaffen», glaubt Dierk Hausmann vom städtischen Planungsamt, dervon Amts wegen optimistisch sein muss. Schumacher Lenz ist da schonskeptischer: «Wenn ich ein Viertel so runtergehen lasse, dauert einImagewandel fast eine ganze Generation.» Aber auch er geht mit gutemBeispiel voran: Der Schumacher hat die Empore seines Ladens einemBildhauer kostenlos zur Verfügung gestellt.