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Finnland Finnland: Amokläufer in Tuusula hat 69 mal geschossen

Von Thomas Borchert 08.11.2007, 21:27
Der finnische Amokläufer Pekka-Eric Auvinen hat bei dem Massaker insgesamt 69 Schüsse ab gefeuert. Sein jüngstes Opferwar 15 und das älteste 51 Jahre alt. (Foto: dpa)
Der finnische Amokläufer Pekka-Eric Auvinen hat bei dem Massaker insgesamt 69 Schüsse ab gefeuert. Sein jüngstes Opferwar 15 und das älteste 51 Jahre alt. (Foto: dpa) Youtube

Helsinki/dpa. - Verzweifelt, fassungslos und voll banger Fragen nach den Hintergründen trauert Finnland um die Opfer des Schulmassakers in Tuusula. Fünf Schüler, eine Schülerin, die Schul- Krankenschwester und die Rektorin waren am Vortag von demAbiturienten Pekka-Eric Auvinen bei seinem Amoklauf mit einerkleinkalibrigen Pistole getötet worden. Der 18-Jährige erschoss sichnach der Bluttat selbst, nachdem er im Internet ausdrücklich das«Jokela High School Massacre» gegen «Schüler, Lehrer, dieGesellschaft, die Menschheit und die Humanität» angekündigt hatte.Wie die Polizei am Donnerstag mitteilte, hinterließ der Amokläuferauch einen Abschiedsbrief. Über den Inhalt wurde zunächst nichtsbekannt.

Auvinen versuchte nach Polizeiangaben, «so viele Menschen wieirgend möglich umzubringen». Er feuerte 69 Schüsse ab und hatte nach seinem Selbstmord weitere 300 Patronen für eine kleinkalibrige Pistole bei sich. Der als überdurchschnittlich begabt geltendeJugendliche hatte außerdem brennbare Flüssigkeit in die sonst völligfriedliche Schule einer ruhigen Kleinstadt bei Helsinki mitgenommen.Offenbar wollte er auch das Schulgebäude anzünden. Sein jüngstesOpfer war 15, das älteste 51 Jahre alt.

«Das war der schlimmste Tag, den es je an einer finnischen Schulegegeben hat», schrieb die Tageszeitung «Helsingin Sanomat». DieRegierung in Helsinki ließ die öffentlichen Gebäude auf halbmastflaggen. «Aamulehti» verwies auf den sonst ruhigen Alltag für5,2 Millionen Finnen mit ihrem weltweit seit den Pisa-Untersuchungenhoch angesehenen Schulsystem: «Niemand bei uns hätte sich im Traumvorstellen können, dass so etwas wie beim Massaker 1999 an derColumbine Highschool im US-Bundesstaat Colorado auch bei uns möglichist.»

Tatsächlich aber wurden Parallelen am Tag nach dem Massaker immerdeutlicher. Auvinen hatte seine Gewaltfantasien auf dem InternetforumYouTube mit dem Titel «Stray Bullet» der deutschen Rockband KMFDMunterlegt. Das war auch der Lieblingssong der beiden jugendlichenColumbine-Amokläufer, die 1999 zwölf Mitschüler und einen Lehrerermordet hatten. Auch der junge Finne ging bei der Ermordung derOpfer planmäßig und gezielt vor. Mit seiner Pistole, für die Auvineneinen Waffenschein besaß, hatte er als Sportschütze geübt. Wegen dessehr kleinen Kalibers, so die Polizei, habe er genau und überwiegendaus nächster Nähe geschossen.

Die meisten Opfer lagen in der Eingangshalle der Schule, wo sichAuvinen am Ende selbst erschoss. Hier starb auch die Schulleiterin Helena Kalmi. Sie hatte nach dem ersten Schuss um 11.44 Uhr überLautsprecher alle Schüler und Lehrer aufgefordert, sich in ihrenRäumen zu verbarrikadieren. Statt das selbst auch zu tun, stelltesich die Pädagogin dem Amokläufer in den Weg und versuchte, ihn zuberuhigen. Sie opferte damit ihr Leben für die anderen.

Um 12.04, als der letzte Schuss abgefeuert wurde, war der größteTeil der Anwesenden in wilder Panik aus dem Gebäude geflohen. EinTeil der Schüler allerdings blieb in völliger Ungewissheit bis zufünf Stunden eingeschlossen. «Mama, was ist, wenn ich jetzt sterbenmuss?», schrieb Katariina Poikala per SMS an ihre Mutter ins Büro.

«Wir haben uns mit der Illusion eingelullt, dass psychischgestörte Jugendliche bei uns rechtzeitig erkannt werden und Hilfebekommen», schrieb «Aamulehti». Psychiater kritisierten im Fernsehendie mangelhafte Ausstattung und die Sparmaßnahmen in derJugendpsychiatrie. Politiker forderten seriösere Anstrengungen, umwilde Gewaltankündigungen im Internet wie durch Auvinen schneller zuerkennen und Konsequenzen zu ziehen. «Aber so etwas Drastisches wiedas hier vorauszusehen, ist unglaublich schwer», meinte dieSchulleiterin Marina Sjöholm Willemoes im Rundfunk.

Das Bild vom Attentäter ist wenig beruhigend für viele Eltern«ganz normaler» junger Männer mit starker Computerabhängigkeit undwenig Freunden. Auvinen wurde als intelligenter, stiller undeigenbrötlerischer Sprössling einer völlig normalen Familie imruhigen Mittelklasse-Städtchen Tuusula charakterisiert. Eine Freundinhabe er nur im Internet gehabt, berichteten Mitschüler. Computer undGewaltspiele im Internet waren überhaupt die wichtigsten «sozialenKontakte». Hier legte Auvinen sein nihilistisches, aggressives undmenschenverachtendes Bild der Welt für jedermann zur Einsicht aus.Bis zu der Ermordung von acht Menschen war er nie als gewalttätigaufgefallen. Das Jokela-Schulzentrum bleibt bis zum Montaggeschlossen.

Hier passierte der Amoklauf: Blick auf das Jokela-Schulzentrum in Tuusula nördlich von Helsinki. (Foto: dpa)
Hier passierte der Amoklauf: Blick auf das Jokela-Schulzentrum in Tuusula nördlich von Helsinki. (Foto: dpa)
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