Ein Jahr nach Amoklauf Ein Jahr nach Amoklauf: Spuren sind verschwunden, die Erinnerung bleibt

Erfurt/dpa. - «Das ist eingebrannt. Wir sind durch die Hölle gegangen», sagtSchuldirektorin Christiane Alt. Der zierlichen Frau mit den großendunklen Augen ist die wachsende Anspannung anzumerken, je näher der26. April rückt. Zum Jahrestag wird vor dem Erfurter Dom der Opfereines beispiellosen Verbrechens in der deutschen Nachkriegsgeschichtegedacht.
Viele traumatisierte Schüler und Lehrer, deren Welt durch die Tatins Wanken geriet, brauchen noch immer Hilfe von Psychologen. Nachdem mühevollen Zurücktasten in den Alltag reißt die Konfrontation mitder Tragödie Wunden wieder auf. Fragen nach dem «Warum», nach demHass, der den 19-Jährigen trieb, oder nach der Überlebenschanceeiniger seiner Opfer bei schnellerer Hilfe quälen sie noch immer.
«Der 26. April 2002 hat unser Leben verändert», hieß es vor einemJahr in Traueranzeigen. Bei jungen Leuten, die nach dem Schock unterdem Motto «Schrei nach Veränderung» durch Erfurt zogen, ist zwölfMonate später Ernüchterung zu spüren. «Gemessen an dem, was geschehenist, ist zu wenig passiert», findet nicht nur die Gutenberg-SchülerinNadine. Dabei hat sich unter dem Eindruck des Massakers politischeiniges bewegt.
Verschärft wurde das Waffenrecht. Steinhäuser, der sich nach derBluttat selbst erschoss, hatte als Mitglied eines Schützenvereinslegal eine Pistole und eine Pumpgun gekauft. Pumpguns mitPistolengriff sind mittlerweile verboten. Auch im Zimmer des Mördersgefundene, besonders gewalttätige Computerspiele führten zuKonsequenzen. Nach dem neuen Jugendschutzgesetz des Bundes müssen nunauch solche Spiele mit einer Altersfreigabe gekennzeichnet werden.Ein Jugendmedienvertrag der Bundesländer soll Kinder und Jugendlichevor Gewalt und Krieg verherrlichenden Angeboten schützen. Zudem hatThüringen sein Schulgesetz geändert und erleichtert Abiturienten nunden Realschulabschluss nach der 10. Klasse. Steinhäuser stand nacheinem Schulverweis wegen gefälschter Krankschreibungen kurz vor demAbitur ohne Abschluss da.
«Viel gelernt aus Gutenberg hat man letztlich nicht», findet EricLanger. Er ist Anwalt und war Lebensgefährte einer der erschossenenLehrerinnen. Statt Lehrern kleinere Klassen und mehr Zeit für ihreSchüler zu geben, würden aus Geldmangel Stellen gestrichen. ErfurtsOberbürgermeister Manfred Ruge (CDU) sieht die Stadt mit derErfahrung des Massakers in der Pflicht: «Wir wollen ein Stachel indieser Gesellschaft sein.» Auch Thüringens Regierungschef BernhardVogel (CDU) weiß, dass es mit Gesetzen allein nicht getan ist. «Ichfrage mich, ob der Umgang miteinander ein anderer geworden ist.»
Für einige schon. Nadine aus der 9. Klasse des Gymnasiums sagt:«Wir gehen behutsamer miteinander um.» Aus dem Horror vor einem Jahrhat sie für sich Konsequenzen gezogen: «Ich weiß jetzt, dass es ganzschnell zu Ende sein kann. Das hilft, das Leben zu genießen.» Anderesind längst nicht so weit. Sie haben Angst vor dem 26. April, vor derErinnerung an Hilflosigkeit, Schmerz und Verlust. Direktorin Althofft danach auf eine Phase der Ruhe. Sie will sich auch wieder umden Umbau des alten Gymnasiums kümmern. Die Schule aufzugeben hättefür sie «den Sieg des Bösen bedeutet».