Christopher Street Day CSD in Berlin: Hunderttausende feierten und demonstrierten friedlich bei der Parade des Christopher-Street-Day

An so einem Tag darf jeder seine geheimen Vorlieben ganz öffentlich ausleben: Geschminkte Männer tragen Röcke, Strapse und durchsichtige Kittel, manche Frauen fühlen sich in Männerklamotten oder kommen als Mangas. Man sieht Menschen in gebügelten Polizeiuniformen und Fellkostümen, knapp sitzenden Dessous, Lack und Leder. Ein mutiger Mann zieht sogar komplett nackt über den Kurfürstendamm, eine kleinen Rucksack trägt er auf dem Rücken, sonst nichts. Und keinen stört das, niemand ruft die Polizei.
Berlin feierte am Sonnabend den 38. Christopher Street Day (CSD). Mehrere hunderttausend Menschen zogen seit den Mittagsstunden durch die City West zum Brandenburger Tor. Die Veranstalter rechneten bis zum Abend mit bis zu 750.000 Teilnehmern, die Polizei ging von 550.000 aus. Die Demonstration der Schwulen, Lesben und Transgender trug das Motto „Danke für nix“, denn in Sachen Gleichstellung hätte sich in den vergangenen Jahren „nix“ verbessert, so die Veranstalter, und sie richteten ihre Kritik vor allem an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU).
Den Demonstrationszug führten Politiker aller Parteien aus dem Abgeordnetenhaus und dem Bundestag an. Auch Botschafter anderer Länder waren gekommen. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) sagte zu Beginn: „Wir wollen feiern, aber es ist auch eine politische Demonstration. Der CSD erinnert daran, dass wir noch sehr, sehr viel zu tu haben. Überall gibt es Momente, wo man Nein sagen muss zu Diskriminierung, Homophobie und blöden Witzen.“ Müller, der sein hellblau kariertes Hemd an diesem Tag weiter aufgeknöpft als üblich trug, sagte auch, in Berlin müsse ein sozialer Zusammenhalt organisiert werden, ein freies und tolerantes Zusammenleben sei wichtig.
Zur Demo waren auch die Berliner Grünen-Politiker Ramona Pop, Daniel Wesener und Antje Kapek gekommen (Kapek hatte sich bunte Plüschohren aufgesetzt), auch Linken-Chef Klaus Lederer stand in der ersten Reihe neben Berlins Senatorin Dilek Kolat (SPD), ebenso Volker Beck und Renate Künast (Grüne). Eine Zeit lang standen Müller, Pop und Lederer besonders dicht für die Fotografen beieinander.
Vor dem Leittransparent lief ein Mann mit golden geschminkter Haut und nur im spärlichen Slip bekleidet, voraus. „Achtung, Parteien auf PR-Tour!“ hatte er auf sein Transparent geschrieben.
Die Veranstalter hatten es sich in diesem Jahr zum Ziel gesetzt, die bunte Parade mit über 50 Wagen durch die Stadt politischer zu gestalten - mehr Politik als Party. Und so führte den kilometerlangen Zug dann auch kein Partywagen mit lauter Musik an, sondern ein „Lauti“ (Lautsprecherwagen), wie man es von politischen Demos gut kennt. Auf dem Wagen hielten Aktivisten der Lesben- und Schwulenbewegung ihre Redebeiträge.
Und auch viele Gruppen nutzten die Demo für politische Statements, und sie zeigten internationale Solidarität. Die Gruppe „Berlin für Orlando“ etwa zeigte die Fotos und Biografien der erschossenen Clubbesucher von Orlando. Ein sehr großes Transparent gehörte dazu, dass sie horizontal festhielten. Erstmals beteiligte sich auch der Fußball-Landesverband an der Parade. „Rote Karte für Homophobie“ stand auf dem Plakat, man sah auch Wagen des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der US-Botschaft. Zu lauter Disco-Musik (gern 80er-Jahre!) tanzten viele auf der Straße, es war eine bunte Mischung ausgelassener und feiernder Menschen, von Teenagern bis zu Rentnern. Sektflaschen wurden umher gereicht, es gab Küsschen und Umarmungen für die Zuschauer am Straßenrand.
Berlins Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen, Dilek Kolat, sagte der Berliner Zeitung, sie habe sich bei Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) dafür eingesetzt, die nach Paragraf 175 verurteilten Homosexuellen zu rehabilitieren. Homosexuelle Handlungen unter Männern waren bis 1994 strafbar, die entsprechende Regelung im Strafgesetzbuch war jahrzehntelang ausgesprochen umstritten.
Der Paragraf 175 wurde schließlich abgeschafft, die Urteile aber nie aufgehoben. Kolat sagte, Berlin habe seit 2012 eine Bundesratsinitiative angeregt, es gab anfangs viele Bedenken, doch jetzt befürworte Maaß die Initiative aus Berlin. „Die Rehabilitierung muss jetzt kommen. Wir haben nicht mehr viel Zeit.“ Denn viele der verurteilten Männer seien schon sehr alt. „Die Urteile müssen aufgehoben, die Betroffenen rehabilitiert und finanziell entschädigt werden“, sagte Kolat.
Die Polizei war am Sonnabend mit einem großen Polizeiaufgebot im Einsatz, etwa 550 Beamten begleiteten den CSD. Sichtbare Einschränkungen nach dem Amoklauf eines 18-Jährigen am Tag zuvor in München, der neun Menschen und sich selbst erschossen hatte, gab es nicht. Zahlreiche Zivilkräfte waren im Einsatz. Ein Polizeisprecher sagte am Nachmittag, es gebe keine Zwischenfälle.
Nach dem stundenlangen Umzug durch die Stadt endet die Parade am frühen Abend mit einer großen Party auf der Straße des 17. Juni. Die dauerte bis in die Nacht. Auf der großen Bühne am Brandenburger Tor traten Bands auf, Höhepunkt war das Konzert der Berliner Band Culcha Candela. Die Musiker traten ohne Gage auf, denn der Berliner CSD-Verein hat immer noch hohe Schulden aus den Jahren zuvor.