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Contergan-Opfer Contergan-Opfer: Zeit der kleinen Tode

Von PETRA PLUWATSCH 28.05.2010, 16:57

Halle/MZ. - Herterich ist 49 Jahre alt, und er hat keine Beine. Die Füße sitzen eng am Körper und sind ein wenig nach innen gebogen. Claudia Schmidt-Herterich (48), seiner Ehefrau, fehlen beide Arme. Die Hände mit den wenigen Fingern sind an den Schultern angewachsen. Sie sehen aus wie blasse, kleine Flügel, und bei der ersten Begegnung fragt man sich bange, ob man sie wohl anfassen und vorsichtig schütteln darf zur Begrüßung.

Der Körper von Angelika Tilsner (50) scheint auf den ersten Blick intakt, doch wenn sie ihre Hände zeigt, dann sieht man, dass die Daumen merkwürdig verkürzt und verbogen sind. "Typischer Contergan-Schaden", sagt sie, als konstatiere sie eine Beule im Autoblech.

Contergan - darüber wollen wir reden. Über jenes Mittel aus dem Hause Grünenthal also, das vor mehr als 50 Jahren den wohl größten Medikamentenskandal aller Zeiten auslöste. Bis zu 12 000 Kinder in rund 50 Ländern kamen missgebildet zur Welt, weil ihre Mütter während der Schwangerschaft das als harmlos geltende Schlafmittel nahmen. Allein in der Bundesrepublik wurden zwischen 1958 und 1962 etwa 5 000 contergangeschädigte Babys geboren.

Inzwischen sind diese Kinder in die Jahre gekommen - noch etwa 2 700 Betroffene leben in Deutschland. Sie sind zwischen 48 und 52 Jahre alt. "Niemand glaubte, dass wir überhaupt so lange leben. Die dachten, wir sind spätestens mit 18 Jahren tot, und alle Probleme haben sich erledigt", sagt Claudia Schmidt-Herterich sarkastisch. Sie lebt ohne Arme und mit einem missgebildeten Rückgrat, weil ihre Mutter während ihrer Schwangerschaft ein paar Tropfen Contergan-Saft vom Löffel leckte.

Die ersten drei Jahre ihres Lebens verbrachte sie im Krankenhaus. Auch die Füße wiesen erhebliche Fehlbildungen auf. Unter anderem mussten die Achillessehnen operativ verlängert werden. 14 Jahre sollten vergehen, ehe sie das erste Mal ohne Hilfe eine Restaurant-Toilette benutzen konnte. Heute fürchtet die 48-jährige Diplom-Psychologin, dass sie diese Fähigkeit - und auch manch andere - wieder verlieren könnte. "Wir Contis entwickeln uns rückwärts, und wir wissen wohin", sagt sie. In absehbarer Zeit wird sie zwei neue Hüftgelenke brauchen. Ihre Hüftpfannen sind, wie bei vielen Contergan-Geschädigten, nicht normal ausgebildet. "Wie soll ich wieder laufen lernen, wenn ich keine Gehhilfen benutzen kann?", fragt sie. Die frühzeitig verschlissenen Bandscheiben bereiten zusätzliche Schmerzen, die sich inzwischen nur noch mit Hilfe von morphinhaltigen Medikamenten niederkämpfen lassen. "Knochentechnisch bin ich 75", umreißt Schmidt-Herterich den Kern des Problems.

"Wir sind mit dem Altwerden eine Runde früher dran als andere Menschen", sagt Udo Herterich, der in Köln eine Firma zur Drucksachenherstellung betreibt. Bereits mit Anfang 40 konstatierte der heute knapp 50-Jährige die ersten Anzeichen eines körperlichen Rückschritts, der ihm zunehmend Sorgen bereitet. "Es sind die kleinen Tode, die wehtun", umschreibt er seine Erfahrungen. "Man muss ständig Abschied nehmen von lieb gewordenen Dingen, weil man einfach nicht mehr kann."

Seinen beruflichen wie privaten Alltag meistert das Ehepaar inzwischen mit Hilfe mehrerer Assistenten, die täglich ins Haus kommen. "Die letzten zwei Jahre waren dramatisch", sagt Claudia Schmidt-Herterich. "Man konnte richtig sehen, wie es bergab ging." Sie benötigt Hilfe beim Anziehen und beim Haarewaschen, Tätigkeiten, die sie früher aus eigener Kraft erledigte. "Ich muss stabilisiert werden, weil ich allein nicht mehr gut stehen kann", erklärt sie.

Bis heute, klagen die Betroffenen, warteten sie vergeblich auf eine angemessene Entschädigung sowie auf eine Entschuldigung von der Firma Grünenthal und vom deutschen Staat. Zwar waren 1968 mehrere Beschäftigte von Grünen-thal unter anderem wegen vorsätzlicher Körperverletzung und fahrlässiger Tötung angeklagt worden. Indes: Nach 283 Verhandlungstagen endete im Dezember 1970 einer der größten Zivilprozesse in der Geschichte der Bundesrepublik mit einer Einstellung des Verfahrens wegen "geringer Schuld" und "geringer Bedeutung für die Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland".

Für die Firma Grünenthal bestehen seit ihrer Einmalzahlung von 100 Millionen Mark vor bald 40 Jahren keinerlei rechtliche Verpflichtungen zu weiteren Leistungen. Ein deutsches Contergan-Opfer erhält in seinem Leben bislang im Durchschnitt etwa 174 000 Euro an Rente einschließlich einer einmaligen Entschädigung. Die Renten betragen zwischen 248 und 1 116 Euro. Zum Vergleich: Die Renten der britischen Leidensgenossen liegen zwischen 1 340 und 3 350 Euro im Monat.

Im Januar 2008 gründete das Ehepaar Herterich gemeinsam mit anderen Betroffenen die Bürgerbewegung "Internationale Contergan und Thalidomid-Allianz" (ICTA). Ihre Forderungen: eine Entschuldigung der Firma Grünenthal und des deutschen Staates, die Verdreifachung der Renten und eine Million Euro Entschädigung für jeden Betroffenen.

Der 1963 gegründete "Bundesverband der Contergangeschädigten" fordert eine deutliche Erhöhung der Renten sowie eine Entschädigung von 100 000 Euro pro Person. Manch erster Schritt in die richtige Richtung ist bereits getan. 2008 beschloss die Bundesregierung eine Verdoppelung der Renten, die zu diesem Zeitpunkt monatlich 121 bis 545 Euro betrugen.

Die Firma Grünenthal zahlte freiwillig weitere 50 Millionen Euro, von denen seit 2009 jedes Contergan-Opfer eine jährliche Sonderzahlung von maximal 3 680 Euro erhält. Davon könnte mit etwas Glück auch Angelika Tilsner profitieren. Seit Mitte vergangenen Jahres kämpft sie darum, als Conterganopfer anerkannt zu werden.

Viele Jahre wusste die 50-Jährige nicht, dass ihre deformierten Daumen und ihre unterschiedlich langen Beine, die Rückenschmerzen und die Depressionen vermutlich eine gemeinsame Ursache haben: Auch ihre Mutter hatte während der Schwangerschaft Contergan genommen. Die Eltern hatten darüber geschwiegen, "weil man ja nichts sah". Erst später erfuhr sie von einer Tante schließlich die Wahrheit. Erst seit Juli vergangen Jahres können Contergan-Opfer, die bisher nicht als solche anerkannt waren, Ansprüche geltend machen.

Der Abend ist hereingebrochen. Noch immer sitzen wir zusammen in dem kleinen Zimmer. Es ist viel gelacht worden an diesem Nachmittag. Trotz allem. Und natürlich darf man Claudia Schmidt-Herterich die Hand schütteln. Zur Begrüßung und zum Abschied.