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Baden-Württemberg Baden-Württemberg: 17-Jähriger erschießt Schüler, Lehrer und Passanten

Von GABRIELE RENZ UND JOACHIM WILLE 11.03.2009, 09:56
Ein Zettel mit der Aufschrift «Warum?» liegt am Mittwoch (11.03.09) umringt von Grablichtern in Winnenden vor der Albertville-Realschule, an der am Vormittag der 17-jährige ehemalige Schüler Tim K. einen Amoklauf verübte. Der 17-Jährige hat am Mittwoch an der Realschule und in einem Autohaus in Wendlingen insgesamt 15 Menschen und dann vermutlich sich selbst erschossen.
Ein Zettel mit der Aufschrift «Warum?» liegt am Mittwoch (11.03.09) umringt von Grablichtern in Winnenden vor der Albertville-Realschule, an der am Vormittag der 17-jährige ehemalige Schüler Tim K. einen Amoklauf verübte. Der 17-Jährige hat am Mittwoch an der Realschule und in einem Autohaus in Wendlingen insgesamt 15 Menschen und dann vermutlich sich selbst erschossen. ddp

WINNENDEN/MZ. - Im Gänsemarsch läuft die Schülergruppe auf dem Gehweg der Albertviller-Straße. Vorn ein Bereitschaftspolizist in Tarngrün,hinten ein Beamter. Man sieht die Unterlippen der Jugendlichen zittern, die geröteten Augen noch voller Tränen. Gruppe um Gruppe wird auf diese Weise aus der Schule gebracht. Lehrerbegleiten ihre Schüler, sind stumm. Sie haben den Alptraum hinter sich. In den Klassenzimmern der zehnten Klasse der Albertville-Realschule in Winnenden aber liegen noch die Leichenvon neun Schülern und drei Lehrerinnen. Vier weitere Tote kommen später noch hinzu.

9.15 Uhr: Der 17-jährige Tim K. läuftmit einer Pistole bewaffnet und mit über 100Schuss Munition schwarz gekleidet in die Realschule.Die Waffe hat er aus dem Schlafzimmer seinerVaters. In der Schule hat Tim K. ein Jahrzuvor seine Mittlere Reife abgelegt. Seithermacht er eine Ausbildung. Er läuft bewusstzu den Klassenräumen, die er kennt. In die10d kommt er ein paar Mal und schreit: "SeidIhr immer noch nicht alle tot?" Eine jungeReferendarin stellt sich noch mutig vor ihreSchüler - und wird kaltblütig erschossen.Es sind die neunten und zehnten Klassen, indie Tim K. in seinem Kampfanzug geht. AlleSchülerinnen und Schüler, die umgebracht werden,sind 14 und 15 Jahre alt.

Tim K. aus dem Leutenbacher StadtteilWeiler zum Stein sei "ein ruhiger, netterJunge" gewesen, sagt der Einkaufsleiter FrankSeiler später. Sein Sohn Steffen war es, dernach dem Massaker im Klassenzimmer als ersterdie Kraft fand und mit seinem Handy die Nummerder Polizei drückte.

9.33 Uhr: Der erste Notruf geht bei derPolizeistation in Winnenden ein. Sofort machensich zwei Beamte des Kriseninterventionsteamsauf den Weg. Es geht darum, Panik nicht ausbrechenzu lassen. Aber auch, den Täter eventuellzur Aufgabe zu bewegen. Die Polizisten, soschildert es später Innenminister HeribertRech (CDU), dringen ins "Objekt ein". Dochsie kommen zu spät. In einzelnen Klassenräumenhabe sich "ein schreckliches Bild geboten",berichtet der Minister.

10 Uhr: Tim K. ist auf der Flucht.Wenige hundert Meter von der Realschule entfernt,in der die ersten Opfer in Blutlachen liegen,trifft der Amokläufer auf den Gärtner desnahe gelegenen Psychiatrischen Zentrums. Ererschießt ihn. Ein zufälliges Opfer, nur weiler dem Jungen gerade im Weg stand.

10.30 Uhr: Der Stand der Polizeiermittlungenist unverändert. Hundertschaften Einsatzpolizeirasen zum Tatort. Drei Hubschrauber überfliegendie Innenstadt von Winnenden. Zu diesem Zeitpunktliegt Steffen Sailer, der den ersten Notrufausgelöst hat, daheim auf dem Sofa und schaut,wie sein Vater erzählt, "nur an die Decke".Als seine Mutter ihn abholte, als sie ihnwegbrachte von dem Ort des Horrors, hatteSteffen noch geweint - wie all seine Mitschüler.Draußen vor der abgesperrten Schule schreiteine Mutter verzweifelt in ihr Handy: "Wassoll ich denn jetzt machen, jetzt muss ichhier stehen und beten." Ein Lehrer muss dieLeichen der Kinder identifizieren.

11 Uhr: Tim K. zwingt einen VW-Sharan-Fahrermit vorgehaltener Waffe, ihm das Auto zu überlassen.Der Geisel sollte später die Flucht gelingen.Er fährt mit dem Wagen ins rund 40 Kilometerentfernte Wendlingen.

12.30 Uhr: Eine anberaumte Pressekonferenzverspätet sich. Es habe ein "weitere Lageentwicklung"gegeben, sagt ein Polizeisprecher.

13 Uhr: Tim K. erschießt in einemAutohaus in Wendlingen einen Mitarbeiter undeinen Kunden. Dann stellt ihn die Polizei.Es kommt zu einem Schusswechsel. Zwei Polizeibeamtewerden schwer verletzt. Tim K. hat sich lautStaatsanwaltschaft erschossen.

13.15 Uhr: Die Pressekonferenz inder Sporthalle der Realschule beginnt. Journalistendiskutieren, ob Tim K. sich vom Amoklauf imUS-Bundesstaat Alabama hat beeinflussen lassen.Kultusminister Helmut Rau sagt, Tim K. sei"nie auffällig gewesen". Offensichtlich habeer eine "doppelte Identität gehabt".

14 Uhr: Die schwäbische Kleinstadtmit 27000 mit ihrer schönen historischenAltstadt ist im Ausnahmezustand. Ein Amoklaufausgerechnet in dieser Stadt im Speckgürtelvon Stuttgart? Wo die Arbeitslosigkeit trotzKrise noch niedrig ist, wo viele "beim Daimlerschaffen"? Proper sieht es hier aus, vieleEinfamilienhäuser, keine richtigen Problemviertel.Und nun das. Ein Obsthändler in der Marktstraßesteht vor seinem Geschäft, er schüttelt denKopf.

14.30 Uhr: Der Amokläufer komme durchausaus gut situierten Verhältnissen, heißt esin Gesprächen. "Geld schützt nicht vor Wahnsinn",sagt ein Mann. Man versucht, sich einen Reimzu machen. Einen Reim, der sich nicht reimt.Tim K. sei "ziemlich eigen" geworden. Einganzes Arsenal von Luftdruckwaffen habe derin seinem Zimmer gelagert. Der 19-jährigeMichael V., der mit dem Amokläufer Tischtennisspielte, behauptet: "Er hatte Tausende Horrorvideoszu Hause." Andere Schüler bezeichnen Tim alsstill, "kein Wort" habe er von sich gegeben.Softairwaffen und Luftdruckpistolen hättenbei Tim einfach so herumgelegen. Die habeer wohl aus dem Keller seines Vaters gehabt.

Der Vater, der nach der Schilderung von Nachbarnein "typischer Patriarch" sei, habe eine ganzeWaffensammlung besessen. Auch die Tatwaffestammt vom Vater, der einen Waffenschein hat.Leutenbachs Bürgermeister Jürgen Kiesl kenntdie Familie nur "oberflächlich", aber alssehr "freundlich". Sie lebe schon lange inder Gemeinde und sei "integriert ins Vereins-und Gemeindeleben". "Ich hatte nur einen angenehmenEindruck", sagt Kiesl.

Nun rätseln alle, was den 17-Jährigen zuder Tat getrieben haben könnte. "Er war haltschlecht in der Schule", versucht der 19-jährigeThomas eine Erklärung. Er sei immer "mehrein Einzelgänger geworden". Während er dassagt, presst Thomas plötzlich seine Hand aufden Mund. Soeben hat er die Bestätigung erhalten,dass die Schwester seines besten Freundesunter den Toten ist (mit dpa und ddp).

Nach dem Amoklauf eines 17-jährigen Jugendlichen liegt eine Leiche auf dem Gelände des Krankenhauses für Psychiatrie und Neurologie Winnenden. (FOTO: DPA)
Nach dem Amoklauf eines 17-jährigen Jugendlichen liegt eine Leiche auf dem Gelände des Krankenhauses für Psychiatrie und Neurologie Winnenden. (FOTO: DPA)
dpa