Vogelzug Abflug oder nicht? Zugvögel immer öfter über Winter im Land
Geht der Sommer, machen sich Zugvögel auf einen langen Weg in ihre Winterquartiere. Doch der Abflug bleibt immer öfter aus. Es besteht klimabedingt einfach kein Grund mehr.

Magdeburg - Der Klimawandel mit immer mehr schnee- und frostfreien Wintern verändert nach Beobachtung des Naturschutzbundes Deutschland (Nabu) das Verhalten von großen und kleinen Zugvögeln. Der Druck, strengen Wintern entkommen zu müssen, habe bei einigen Arten abgenommen oder sei gar nicht mehr da, sagte der Ornithologe und Vizechef des Nabu Sachsen-Anhalt, Martin Schulze, der Deutschen Presse-Agentur. Immer öfter werden Zugvögel sogar zu Standvögeln, bleiben also ganzjährig in einem Gebiet.
„Limitierender Faktor ist immer das Nahrungsangebot“, sagte Schulze. „Vögel, die hier inzwischen im milden Winter gut klarkommen, machen keine saisonalen Wanderungen mehr und bleiben in Sachsen-Anhalt.“ Das sei kräfteschonend, stressfreier und weniger gefährlich. „Schnee und Frost sind Zugauslöser. Einige Vogelarten entscheiden das also auch je nach Bedarf und können reagieren, wenn sie müssen.“
Die Wahl der kürzeren, ungefährlicheren Zugwege
Gute Beispiele seien der Weißstorch, der Kranich und die Graugans. „Da sind in den vergangenen zehn bis 20 Jahren große Verschiebungen zu beobachten“, so der Vogelexperte, der auf 40 Jahre Erfahrung blickt. „Beim Storch gibt es West- und Ostzieher. Die Zugrichtung manifestiert sich über lange Zeit in der Population. Was von größerem Vorteil ist, setzt sich durch. Die Vögel reagieren auf die neuen klimatischen Verhältnisse.“
Laut Schulze überwinterten die „Westzieher“ früher in Westafrika, dann verstärkt in Spanien, heute immer mehr auch schon in Westdeutschland. Die „Ostzieher“ flögen immer noch lange Zugwege über den Bosporus bis ins östliche und südliche Afrika, was gefährlich und energieaufwendig sei. Für die Weißstorch-Population zahlen sich die kurzen Zugwege nach Westen aus, so Schulz. Die bei uns brütenden Graugänse sowie die in Nord- und Osteuropa beheimateten Saat- und Blässgänse seien früher unter anderem an die eisfreie Nordsee geflogen. Heute verbringen sie die Winter auch in Sachsen-Anhalt.
Mehr Silberreiher als früher
Jedes Jahr gibt es Schulze zufolge zwischen September und April eine europaweite Wasservogelzählung mit hunderten beteiligten Vogelkundlern und einem festen Zählstreckennetz. „Auch da beobachten wir, dass die Zugvögel die immer milderen Winter für sich nutzen und keine langen Flüge machen.“ Beispiel Silberreiher: In den 1980er Jahren noch eine Rarität, hat die Zahl der rastenden Tiere in Sachsen-Anhalt zuletzt stark zugenommen. „Sie kommen zum Beispiel aus Ungarn oder der Ukraine und ziehen mittlerweile nicht mehr nach Süden, sondern lieber nordwestlich, etwa nach Mitteldeutschland.“
Es gebe aber auch Arten, die nun verstärkt weiter östlich und nördlich den Winter verbringen, beispielsweise im Ostseeraum. Laut Schulze sind das unter anderem Singschwäne und Reiherenten, die als Wintergäste bei uns seltener werden.
Auch kleine Singvögel wägen klimabedingt ab
Auch kleine Vögel wie Rotkehlchen, Buchfinken oder Stare entscheiden oft je nach Wetter, ob sie am Vogelzug teilnehmen oder nicht. „Einige mitteleuropäische Arten sind Teilzieher, die je nach Überwinterungsbedingungen entweder ganz bleiben oder nur kleinere Züge machen“, erklärte Schulze. Eine Wahl hätten vor allem die Arten, die im Winter auf vegetarische Nahrung umstellen, also von Insekten auf Körner oder Früchte.
Doch es gibt auch die, die wegziehen müssen. „Mauersegler und Schwalben fressen nur Fluginsekten, die es im Winter hier nicht gibt“, sagte Schulze. „Würden sie bleiben, würden sie verhungern.“ Auch Bienenfresser machen den Abflug, wenn das Großinsekten-Angebot als Futterquelle versiegt ist. „Sie überwintern in jedem Fall rund um den Äquator.“ Schulze zufolge ist Sachsen-Anhalt ein „Bienenfresser-Hotspot“. Erst seit den 1990er Jahren ist die südliche Art bei uns heimisch. Mehr als 2.000 der rund 6.000 Brutpaare in Deutschland sind zwischen Arendsee und Zeitz zu finden.