Zehn Jahre nach dem Mord Zehn Jahre nach dem Mord: Marias Mutter weint bittere Tränen der Erlösung
Magdeburg/MZ. - Es ist kurz nach zwölf Uhr, als sich noch einmal die Tür von Raum 232 der Magdeburger Staatsanwaltschaft öffnet. In den Saal, in dem sich bereits Kamerateams, Fotografen und mit Schreibblöcken ausgestattete Journalisten drängeln, wird eine zierliche Frau geführt. Sie zittert am ganzen Körper, aber sie wollte hierher kommen. Unbedingt.
Und als sie auf einem Stuhl Platz genommen hat, beginnt sie unter dem Eindruck des Vorgetragenen so laut zu schluchzen, dass die Stendaler Kripochefin das Podium verlässt, die Frau in die Arme nimmt und ganz lange drückt. "Das ist heute wie Weihnachten für mich. Ich habe immer gehofft, dass sie den Täter noch schnappen," sagt die Frau unter Tränen. Sie heißt Bürgit Juhl, und der Mord an ihrer Tochter Maria vor fast genau zehn Jahren ist das quälende Thema dieser Pressekonferenz.
"Einfach strukturiert und gefühlskalt" nennt Oberstaatsanwalt Frank Baumgarten jenen Mann, der seit zwei Tagen Polizei und Justiz in Atem hält. Es muss Mittwoch am späten Nachmittag gewesen sein, als der Chef der Magdeburger Rechtsmedizin und ein Kollege wieder einmal an ihrer Labortechnik sitzen, um die letzten von rund 2 400 Speichelproben zu vergleichen. Kein einfacher Job, wie der Leitende Oberstaatsanwalt Rudolf Jaspers weiß. Denn eine der beiden vor zehn Jahren am Tatort gefundenen Vergleichsproben, ein Haar mit Wurzel, war zwischenzeitlich nicht mehr zu gebrauchen. Aber in einem aufwändigen Verfahren konnte das Haar ohne Wurzel zum DNA-Test genutzt werden. Und das führte zum überraschenden Erfolg.
Von da an geht alles ganz schnell. Ein 48-jähriger Arbeitsloser aus Magdeburg, der 1995 in einem Nachbardorf von Haldensleben wohnte, wird festgenommen und gesteht. Umfänglich und so detailliert, dass Jaspers die Presse um einige Zurückhaltung bittet: "Ersparen sie uns bitte die Details", sagte er. Aber das Bild, dass die Ermittler aus den zehn Jahre währenden Ermittlungen zusammenpuzzeln können, scheint lückenlos.
An einem Freitagmorgen im November 1995 macht sich die sieben Jahre alte Maria Juhl aus Haldensleben wie immer auf den Schulweg. Ihre Strecke führt vorbei an der langen Bahnhofstraße über die Alsteinstraße, verläuft an der Schulstraße entlang und endet kurz hinter der Bäckerei. Die Mitschüler und Lehrer wundern sich an diesem Tag über die fehlende Schülerin. Doch erst, als ein Förster anruft, schrillen die Alarmglocken. Direkt an der Kreisstraße 149 liegt der Ranzen - eine Schulmappe aus Jeansstoff mit lustig bedrucktem Schreibheften. 300 Meter weiter links liegt der Schirm.
Über 200 Polizisten suchen nach dem kleinen Mädchen. Sie werden erst Tage später fündig in einer Tonkuhle, wo sie das fürchterlich zugerichtete und sexuell missbrauchte Mädchen tot finden. Die wichtigste Spur ist ein blauer 120-Liter-Müllsack. Darin liegt das tote Mädchen, das mit Klebeband gefesselt war. Und zwei Haare, die nicht von dem Mädchen stammen.
Es beginnen Ermittlungen, die zu den umfangreichsten im Lande gehören. Hunderte Zeugen werden befragt, Parallelen zu anderen Fällen geprüft. Es entsteht das Phantombild eines etwa 40 Jahre alten Mannes. Einen Durchbruch bringt auch dieses Bild nicht. Aber seit Donnerstag wissen die Ermittler, dass die Rekonstruktion sehr gut war. "Der Täter ist das fleisch gewordene Phantombild", berichtet Ermittler Reimar Klockziem. Und: Der Verdächtige habe die typischen Motive eines Sexualtäters gehabt. Das Mädchen sei zufällig vorbeigekommen, ein Mord sei zunächst nicht geplant gewesen.
Dass der Mann ins Raster eines vor mehr als zwei Jahren auf den Weg gebrachten Massenspeicheltests passt, ist Zufall. Denn der Vater dreier Kinder zieht oft um, ist am Ende in Magdeburg gemeldet. Er gibt an, zu DDR-Zeiten schon einmal wegen eines Sexualdelikts inhaftiert gewesen zu sein. Ob seine eigene Angabe, zu 50 Prozent geistig behindert zu sein, trotz mehrerer Psychiatrieaufenthalte stimmt, wird von der Staatsanwaltschaft allerdings bezweifelt. "Er hat immerhin einen Führerschein gemacht", so Jaspers. Und auch die sehr rational wirkende Vertuschung des Mordes - das Klebeband, der Müllsack, die Tonkuhle - sprechen eher gegen einen Mann mit geistiger Behinderung. Die Polizei vergleicht nun in ihren Datenbanken, ob noch andere Taten in Betracht kommen.
"Man soll die Hoffnung nie aufgeben", sagt Bürgit Juhl, als sie den Raum der Pressekonferenz verlässt. Sie wirkt gefasster als am Anfang. Irgendwie erleichtert.