Vorfall in Kindergarten Vorfall in Kindergarten: Eine Tragödie auf Tesa-Film
Halle/MZ. - Die kleine Frau hält den Kopf gehoben. Geradeaus geht der Blick, durch den Pressepulk hindurch. Manuela G. hat ihr Haar locker zurückgebunden, die Schultern sind durchgedrückt, als sie vor Saal 3024 im Justizzentrum Halle ankommt. Fünf Minuten noch bis zur Verhandlung, die über das Schicksal der 39-Jährigen entscheiden soll. Fünf Minuten Warten, umringt von Gerichtsfotografen.
Die fotografieren sonst zwei Etagen tiefer Mörder und Totschläger. Heute aber mussten sie sich durchfragen zum Arbeitsgericht im 3. Stock. Und hier ist Manuela G. nicht Angeklagte, sondern Klägerin: Die Kindergärtnerin, seit 1989 in einer Tagesstätte der Stadt Halle beschäftigt, kämpft gegen eine Kündigung, die ihr Dienstherr im Dezember 2003 ausgesprochen hatte. Weil er der Frau im Blazer vorwirft, sie habe ihre Pflicht als Erzieherin einer Gruppe von Fünfjährigen verletzt, indem sie vier Kindern den Mund zuklebte.
Ein Fall, der Schlagzeilen machte. Ein Fall, der für Empörung sorgte. Und doch ein Fall, der sich immer weniger leicht beurteilen lässt, je näher man den Fakten kommt.
"Manuela ist doch keine schreckliche Tesa-Tante", ärgert sich Andrea Köhler, die fünf Jahre an der Seite von Frau G. arbeitete. G. sei immer freundlich und geduldig gewesen, sie habe sich für ihre Kinder nicht nur interessiert, sondern begeistert. "Sie hat für ihre Gruppen Schlittschuhlaufen organisiert und bevor die Großen an die Schule wechselten, gab es immer die Zuckertütenfahrt nach Bad Bibra", schildert Ehemann Leonid G.
Bis zu diesem Freitag. Ein paar Kinder spielen Memory, ein paar andere toben. Manuela G., die gerade versucht, eine Spielkiste mit Tesa-Film zu flicken, ermahnt. "Ihr stört doch die anderen", habe sie gesagt. Mehrmals. Als das nichts hilft, schnappt sie sich die vier Lautesten. Und drückt ihnen je ein Stück Klebestreifen ins Gesicht. "Neben den Mund" und "ganz spielerisch", sagt sie selbst. Eines der Kinder aber berichtet seiner Mutter dennoch, Tante Manuela habe ihm gestern den Mund zugeklebt.
Es ist der Ausgangspunkt für eine Ereigniskette, an deren Ende die bis dato so beliebte Erzieherin nun an einem Gerichtstisch mit Halles Rechtsamtsleiter Ralf Borries sitzt. Eine Tragödie auf Tesa-Film: Die Großmutter eines betroffenen Kindes ist die frühere Leiterin der Kindertagesstätte, in der G. arbeitet. Von ihrer Tochter alarmiert, informiert sie noch am Sonntag die Kita-Fachberaterin der Stadt. Die handelt schnell: Als Manuela G. am Montag zur Arbeit kommt, "wurde mir bloß noch mitgeteilt, dass ich suspendiert bin". Sie habe nicht Stellung zu den Vorwürfen nehmen oder ihre Version der Ereignisse schildern können. "Allen Kolleginnen ist das so erzählt worden, wie es von den Eltern kam."
Auch den so Informierten stößt das bitter auf. "Aber wir dürfen ja mit niemandem reden", sagt eine, die zum Prozess gekommen ist, um "zu zeigen, dass Manuela kein Monster ist". Andrea Köhler, die mittlerweile eine kirchliche Tagesstätte leitet, wird noch deutlicher: "So darf man mit Menschen nicht umgehen". Richtig sei, dass G. einen Fehler gemacht habe. "Doch dass 15 Jahre gute Arbeit gar nicht mehr zählen, akzeptiere ich nicht." Bleibe es bei der Kündigung, werde G.s Existenz vernichtet. "Wo soll sie denn damit eine neue Stelle finden?"
Nirgends, denkt Leonid G., "deshalb bleibt uns nur, um die Wahrheit zu kämpfen." Die nämlich stehe nicht in dem Gesprächsprotokoll, das die Stadt als Argument anführt: Auch vor Gericht bekräftigte Ralf Borries die Auffassung der Stadt, dass das Papier beweise, dass Manuela G. in einer Aussprache gestanden habe, tatsächlich gezielt Münder zugeklebt zu haben. "Nur hat meine Frau das Papier ja nie unterschrieben", sagt Leonid G.. Folglich sei der vermeintliche Beweis nur "irgendein Blatt".
Ein Fortsetzungstermin vor dem Arbeitsgericht steht noch nicht fest. Das Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft, die wegen Körperverletzung ermittelt, soll Anfang Juni abgeschlossen sein.