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Jahrtausendflut 2013 Trotz hunderter Millionen Fluthilfe: Die Vergessenen im Auenland

Als das Jahrhunderthochwasser vor zehn Jahren nach Planena kam, zerstörte es in dem kleinen Aue-Ort viel mehr als Gebäude und Hausrat.

Von Steffen Könau 03.06.2023, 09:00
Martin König und seine Familie leben in Planena idyllisch, aber zwischen  zwei Flüssen.
Martin König und seine Familie leben in Planena idyllisch, aber zwischen zwei Flüssen. Foto: Andreas Stedtler

Planena/MZ - Es grünt und blüht längst wieder ringsum. Satt leuchten die Wiesen, Wildblumen recken die Köpfe, Ulmen, Linden und Eichen spenden Schatten. Auch auf dem Hof von Familie König im kleinen Flecken Planena ist nichts mehr zu sehen von den Zerstörungen, die Martin König, seine Frau Grit, Vater Reinhard und Mutter Edeltraud vor zehn Jahren hatten dermaßen verzweifeln lassen, dass sie ernsthaft entschlossen waren, ihre Heimat zu verlassen. Das Jahrhunderthochwasser von 2013, es war anderswo schlimm und für viele Menschen mehr oder weniger existenzbedrohend. Hier in der tiefen Aue zwischen Saale und Weißer Elster aber spülte die Flut binnen weniger Tage jahrhundertealte Gewissheiten fort.

„Da sieht man heute noch die Flutmarke“, sagt Martin König und zeigt auf eine Tür im Haus. Der Strich auf Kniehöhe ist schmal und schon verblasst, für die Königs aber ein für alle Zeiten eingebranntes Zeichen. Hier im Zweistromland, 300 Meter entfernt von der Saale und keine zwei Kilometer von der Elster, hat das Wasser schon den Lebensrhythmus bestimmt, als Martin Königs Urgroßvater vor mehr als 110 Jahren in das Haus zog, das über der Tür stolz das Baujahr „1750“ trägt.

Leben im Überschwemmungsgebiet

Der Apfelbaum hinten im Garten bekommt regelmäßig nasse Füße, weil es von der Saale hereindrückt oder aber die Elster mehr Wasser als gewöhnlich führt. Die slawischen Siedler, die Planena vor tausend Jahren gründeten, wählten den Ortsnamen nicht zufällig – auf Deutsch bedeutet er „Überschwemmungsgebiet“.

Familie König aus Planena lebt mit dem Wasser; Grit, Edeltraut und Martin König wissen, was wann kommt.
Familie König aus Planena lebt mit dem Wasser; Grit, Edeltraut und Martin König wissen, was wann kommt.
Foto: Andreas Stedtler

Ein großes Problem für die nicht einmal drei Dutzend Menschen, die hier an der äußersten Grenze der Stadt Halle leben, war das nie. „So lange ich denken kann, leben wir mit dem Wasser“, erklärt Martin König. Wer in der Saale-Elster-Aue aufgewachsen ist wie der 52-Jährige, kann die Signale lesen, die die Flüsse senden. Steigt das Wasser hinter dem Haus bis zum Baum, ist alles gut. „Das verschwindet dann auch wieder, manchmal nach einem Tag, manchmal nach zweien.“ Jeder im Dorf, das wegen seines Hufeisen-Grundrisses und der vielen erhalten gebliebenen klassischen Hofanlagen unter Denkmalschutz steht, weiß genau, was getan werden kann, um die Folgen der kleinen Überschwemmungen zu mindern. Planena ist umgeben von Teichen und Niederungen, überall verlaufen Gräben und Furchen, es gibt Absperrschieber und Querrinnen, die seit hunderten von Jahren helfen, den Ort trockenzuhalten. (Hintergrund: „Was tun, wenn das Wasser von überall kommt?")

Zwischen Christopher und Dominik

Vor zehn Jahren aber nützt das alles nichts mehr. Wie schon beim letzten großen Hochwasser 1994 werden die Planenaer Opfer von Umständen, die sie nicht beeinflussen können. Die Tiefdruckgebiete „Christopher“ und „Dominik“ schieben feuchte Luft heran. Es regnet so viel wie seit Jahrzehnten nicht. Dieser Mai wird als niederschlagreichster seit Beginn der Aufzeichnungen in die Annalen eingehen.

Dieses Bild des MZ-Fotografen Lutz Winkler aus der Flut 1994 machte Edeltraut König berühmt.
Dieses Bild des MZ-Fotografen Lutz Winkler aus der Flut 1994 machte Edeltraut König berühmt.
Lutz Winkler

An den Oberläufen der Flüsse aber sind viele Überflutungsflächen verschwunden. Bauen am Wasser ist in, Bauland an den Ufern begehrt. Zum Schutz sind Dämme und Deiche erhöht worden, zugleich aber hat sich die Hauptfunktion der Talsperren verändert (Hintergrund: Hochwasser in Mitteldeutschland: Waren Talsperren vorher zu voll?). Einst als Hochwasserschutzanlagen gebaut, die nebenher auch Strom erzeugen, haben sich die fünf großen Anlagen entlang der sogenannten Saalekaskade über die Jahre in Bauwerke zur Trinkwassergewinnung, zur Stromerzeugung und in Touristenattraktionen verwandelt.

Als der große Regen beginnt, sind von 400 Millionen Kubikmetern Platz in den Becken nur noch 40 Millionen frei. Viel zu wenig, als dass sie eine Katastrophe verhindern könnten. Bang schaut Martin König damals jeden Morgen auf den Hof, der erste Blick draußen gilt der Suche nach dem neuen Ufer des Überschwemmungsgebietes. „Wir haben ganz schnell bemerkt, dass es schlimmer wird als sonst“, sagt er heute. Aber wie schlimm es werden würde, das ahnt auch in Planena niemand. Bis es zu spät ist. Über Nacht kommt die große Flut, höher und mächtiger als jemals zuvor. Anfang Juni reicht es nicht mehr, mit dem Boot zur Arbeit zu fahren. Mutter Edeltraud hat das Lächeln verloren, mit dem sie sich früher auf einem großen Styropor-Block durch die überfluteten Straßen ziehen ließ. Martin Königs Vater Reinhard feiert seinen 66. mit Wasser bis zum Hals. Kurze Zeit später müssen Königs ihren Hof zum ersten Mal wegen eines Hochwassers verlassen.

Ein unvergesslicher Schock

Ein Schock, von dem sich die Familie bis heute nicht erholt hat. Als sie nach einer Woche zurückkehren, ist alles nass. Die Mauern sind durch, der Putz tropft. Schlamm füllt alle Räume. Die Wohnungseinrichtung ist reif für den Sperrmüll. Die Spuren jener Juni-Tage vor zehn Jahren sind geblieben, zumindest auf der Seele. „Ich träume manchmal heute noch, dass das Wasser wiederkommt“, erzählt Martin König, ein robuster Mann mit Händen, die das Zupacken gewohnt sind. Wie sein Vater, der im vergangenen Jahr starb, ist der gelernte Gärtner kein Jammerer, der um Hilfe bettelt.

„Mein Vater hat immer gesagt, wir sind allein klargekommen und wir werden allein klarkommen.“ Nur ganz kurz dachten Königs nach dem Jahrhunderthochwasser darüber nach, ihr Dorf zu verlassen und woanders neu anzufangen. „Aber wir leben seit sieben Generationen hier, und das gibt niemand so einfach auf.“ Sie haben sich stattdessen die Antragsformulare für die Hochwasserhilfe angeschaut. „Dann hat Vater gesagt, wir machen das selbst.“ Königs haben die Ärmel hochgekrempelt und ihren Hof wieder aufgebaut, Stück für Stück und in der Hoffnung, dass Hilfe für den Ort komme, so dass etwas wie diese fürchterliche Flut sich nie wiederholen werde. „Sogar der hallesche Oberbürgermeister tauchte ja auf und hat sich alles angeschaut.“

Neue Straße bis zum Ortsschild

Dabei ist es aber auch geblieben. Planena bekam eine neue Straße zur Anbindung an die B 91. „Aber die hat die Bahn wegen der neuen ICE-Trasse gebaut“, sagt Martin König. Verschwunden sind bei dieser neuen Trasse die vorher vorhandenen Flutablaufvertiefungen, die es dem Wasser aus der Saale erlaubten, schnell am Dorf vorbeizufließen. „Da hat wohl keiner gewusst, wozu die da waren.“ Jetzt staut der kleine Damm das Wasser und hält es länger im Ort. Die neue Straße endet zudem genau am Ortseingangsschild. „Im Dorf haben wir immer noch das bucklige Kopfsteinpflaster.“ Die Schieber an den Kanälen, über die die Einwohner früher kleinere Hochwasserwellen selbst wegregulieren konnten, sind nun mit Riegeln und Schlössern gesichert. „Steigt das Wasser, müssen wir anrufen und bitten, dass jemand kommt und den Schieber öffnet.“

Martin König klingt weder wütend noch allzu enttäuscht. Dass nebenan und überall rundherum hunderte Millionen verbaut wurden, um mit Hochwassermitteln eine nagelneue Infrastruktur aus dem Boden zu stampfen, das habe er schon mitbekommen. „Aber wir sind eben nur ein paar Leute ohne Lobby.“ Der Ringdeich, von dem über Jahre geredet wurde, ist jetzt jedenfalls auch vom Tisch. Zu teuer, zu aufwendig für die Handvoll Menschen, befand das Land. Vor kurzem hat die Stadt Halle immerhin ein sogenanntes Mobildeichsystem angeschafft, 250 Meter lang und in der Lage, zusammen mit 800 eingelagerten großen Sandsäcken einen Wasserstand von 1,50 Meter über Normal abzuwehren. Ob das klappt?

Martin König möchte es auf den Versuch am liebsten nicht ankommen lassen.